Prof. Dr. K. A. Schachtschneider (Nürnberg)

Die Republik Europas

Drei an Kants Friedensschrift orientierte Integrationsmodelle

nach dem Maastricht-Urteil (1) 

aus: Aufklärung und Kritik 2/1997 (S. 84 ff.)

Einleitung

Die Europäischen Gemeinschaften und die gemeinsamen Politiken des Äußeren und der Sicherheit, der Justiz und des Inneren sind der gegenwärtige Integrationsstand "einer immer engeren Union der Völker Europas" (Präambel, 11. ErwG; Art. A Abs. 2 EUV). Die Entwicklung der Europäischen Union dient nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG der Verwirklichung eines "vereinten Europas", an der die Bundesrepublik Deutschland nicht erst seit diesem Europaartikel, sondern ausweislich der Präambel des Grundgesetzes seit 1949 mitzuwirken sich zur Aufgabe gemacht hat. Die Mitgliedschaft Deutschlands in den Europäischen Gemeinschaften war bis zu ihrer Weiterentwicklung durch den Vertrag über die Europäische Union vom 7. Februar 1992 auf Art. 24 Abs. 1 GG gegründet, der es dem Bund erlaubt hat und noch erlaubt, "Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen zu übertragen".

Ob die erreichte und bezweckte Intensität der Integration der allgemeinen Freiheit der in Völkern lebenden Europäer entspricht, ob sie das Über- oder ein Untermaßverbot mißachtet, ist das wesentliche Integrationsproblem. Sollte die europäische Integration über einen "Föderalism freier Staaten", wie ihn Kant 1795 in seiner Friedensschrift konzipiert hat, hinausgehen? Hat die allgemeine Freiheit noch eine Verwirklichungschance in einem großen Staat Europa? Der Maastricht-Vertrag 1991 zielt auf einen Staat Europa, das Maastricht-Urteil 1993 (2) jedoch hat ihn (vorerst) verhindert, weil er der existentiellen Staatlichkeit der Völker, insbesondere Deutschlands, widersprochen hätte (3). Ökonomische Theorien vermögen das Integrationsproblem nicht zu lösen, zumal sie kontingent sind. Große Märkte kann man auch ohne einen großen Staat ordnen, wie es gerade das Gemeinschaftsrecht, aber auch die Weltwirtschaftsordnung zeigen. Die entscheidende Frage ist, ob die allgemeine Freiheit untrennbar mit der existentiellen Staatlichkeit der Völker verbunden ist. Die Antwort hängt sowohl vom Freiheits- als auch vom Volksbegriff ab. Liberalistische Freiheiten, d.h. begrenzte Freiheitsrechte der Untertanen gegenüber ihrer Obrigkeit, setzen keine Bürger im freiheitlichen Sinne, aber auch kein Volk im nationalen Sinne voraus. Wie die Geschichte beweist, kann sich Herrschaft nicht nur über heterogene Untertanen, sondern auch über eine Völkervielfalt erstrecken. Das wäre gegenwärtig das Szenario eines europäischen Parteienstaates.

I. Republikanische Aspekte von Freiheit, Recht und Staat, insbesondere in der Europäischen Union

1. Die apriorischen Rechtsprinzipien in Europa sind Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.(4) Der 3. Erwägungsgrund der Präambel der Einheitlichen Europäischen Akte spricht von "Freiheit, Gleichheit und sozialer Gerechtigkeit". Dies sind die fundamentalen Verfassungsprinzipien, zu denen sich in Deutschland das Grundgesetz in der Erkenntnis der Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die zu achten und zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt sei, und in dem daraus folgenden Bekenntnis zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt, aber auch in der Bindung der Gesetzgebung, der vollziehenden Gewalt und der Rechtsprechung an die Grundrechte als unmittelbar geltendes Recht (Art. 1 GG), in dem allgemeinen Freiheitsprinzip des Art. 2 Abs. 1 GG, dem Gleichheitsprinzip des Art. 3 GG, vor allem aber in den Strukturprinzipien des Art. 20 GG, nämlich dem Republikprinzip, dem demokratischen und dem sozialen Prinzip, aber auch dem Bundesstaatsprinzip, bekennt. Es sind aber auch die Prinzipien der Europäischen Union. So wird im 3. Erwägungsgrund der Präambel des Vertrages über die Europäische Union, dem Maastricht-Vertrag, das Bekenntnis "zu den Grundsätzen der Freiheit, der Demokratie und der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Rechtsstaatlichkeit" bestätigt, aber auch der feste Wille "zum wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt" der Völker in der Präambel (7. ErwG), sowie in Art. B des Unionsvertrages und in Art. 2 des Vertrages über die Europäische Gemeinschaft zum Ausdruck gebracht, ja verbindliches Ziel der Union und der Gemeinschaft; denn das Sozialprinzip ist das Prinzip der Brüderlichkeit, welches durch die allgemeine Selbständigkeit der Menschen als Bürger verwirklicht würde. Art. 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 macht die Ideale der Französischen Revolution mit der folgenden Formulierung zur Grundlage des Weltrechts:

"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen."

Dieses Weltrechtsprinzip ist das Bekenntnis der Moderne aus der Erkenntnis aufgeklärten gemeinsamen Lebens der Menschen, welches auch das Ethos der Christen:

"Du sollst Deinen Nächsten lieben wie Dich selbst; denn ich bin der Herr" (3. Mose 19, 18),

zu verwirklichen sucht.

Dieses keineswegs nur christliche Ethos (5) hat Kant als den kategorischen Imperativ, das Gesetz der Freiheit, der Autonomie des Willens, nachgewiesen (GzMdS, 11 ff.)(6).

Aufklärerische Prinzipien also definieren die politische Kultur Europas und beanspruchen zugleich weltweite Achtung; denn die Freiheit, mit ihr die Gleichheit und die Selbständigkeit, das Recht also, sui iuris zu sein, sind mit dem Menschen geboren oder (kantianisch) transzendentales Apriori (MdS, 345 f.; ZeF, 204). Um der Menschheit des Menschen willen dürfen die Gemeinwesen, in denen die Menschen leben, nur Republiken sein. Eine Republik aber ist ein Staat des Rechts, eine Rechtsgemeinschaft, wie Cicero, der Römer, gesagt hat:

"Quid est enim civitas nisi iuris societas civium."(7)

Dementsprechend hat Kant den Staat als Rechtsstaat definiert:

"Der Staat ist die Vereinigung einer Menge von Menschen unter Rechtsgesetzen" (MdS, 431).

Recht aber, welches die Republik ausmacht, ist die Wirklichkeit der allgemeinen, also der gleichen Freiheit. Recht kann nur durch allgemeine Gesetze materialisiert werden. Das allgemeine Gesetz aber ist das Gesetz aller, der "vereinigte Wille des Volkes" (Kant, MdS, 432). Nur unter dem allgemeinen Gesetz ist jeder äußerlich frei, nämlich "unabhängig von eines anderen nötigender Willkür" (Kant, MdS, 345); denn: volenti non fit iniuria (Kant, MdS, 432). Das allgemeine Gesetz hervorzubringen setzt den guten Willen aller voraus, die allgemeine Sittlichkeit, die ihrer Formalität wegen der gesetzgeberischen Moralität bedarf. Darum ist die allgemeine Freiheit nicht nur die äußere Freiheit, sondern auch die innere Freiheit als Pflicht zur Sittlichkeit. Das Grundgesetz ist ausweislich seines Art. 2 Abs. 1 und nach der Begründung dieses ethischen Grundprinzips durch Hermann von Mangoldt im Parlamentarischen Rat und den "Erinnerungen" Carlo Schmids 1979 dieser Logik Kants gefolgt.(8) Der Schlüsselbegriff des Grundgesetzes ist der kantianische Begriff des Sittengesetzes.(9) Freiheit ist nicht spezifisch, wie im Liberalismus des monarchischen Prinzips, ein Abwehrrecht des Bürger genannten Untertans gegenüber dem obrigkeitlichen Staat, sondern politische Freiheit oder eben die allgemeine Bürgerlichkeit der Bürger, d.h. die allgemeine Gesetzgeberschaft, wie es im kategorischen Imperativ als dem Prinzip der (inneren) Freiheit erfaßt ist. Dieser Freiheitsbegriff schließt subjektive Rechte ein, staatliche Vernunftwidrigkeit abzuwehren, zumal wenn diese den grundrechtlichen Leitentscheidungen zuwiderläuft.

Der liberalistische Freiheitsbegriff trennt oder unterscheidet den Staat von der Gesellschaft und setzt damit ein herrschaftliches Prinzip des Staatlichen voraus. Das gemeinsame Leben ist allemal von Herrschaft bestimmt, heute vor allem von der sanften Despotie der Parteien. An die Stelle des monarchischen Prinzips haben die Verfassungsgesetze der Verfassung der Menschen gemäß das republikanische Prinzip gesetzt. Praktiziert wird aber ein Parteienprinzip. Der Obrigkeitsstaat hat sich trotz der republikanischen Verfassungsgesetze von 1919 und 1949 behauptet.

2. Obrigkeitlichkeit ist auch die Wirklichkeit der Europäischen Gemeinschaft, begünstigt durch deren zentralistischen und bürokratistischen Exekutivismus.

Eine eigenständige demokratische Legislative hat die Europäische Gemeinschaft nicht.(10) Die in Art. 137 EGV Europäisches Parlament genannte Versammlung der Vertreter der Völker kann vor allem mangels eines europäischen Volkes, aber auch mangels allgemeiner und gleicher Wahlen nicht demokratisch legitimieren. Sie stärkt lediglich die demokratische Legitimation (185 f.). Das Bundesverfassungsgericht hat im Maastricht-Urteil postuliert, daß die europäische Legislative kompetentiell und legitimatorisch gestärkt werden müsse, wenn die Integration der Union fortschreite (184, 186, 213). Derzeit seien die europäischen Rechtsakte wesentlich national legitimiert und die Ausstattung der Union mit Aufgaben und vor allem Befugnissen müsse darum dem Prinzip der "begrenzten Einzelermächtigung" folgen (184 ff., insb. 186, 192 ff.)(11). Zu Recht wird derzeit dem Europäischen Parlament die eigentliche Befugnis eines Parlaments, nämlich die, verbindlich Gesetze zu beschließen, vorenthalten, weil dessen Gesetzgebung nicht demokratisch, nämlich von einem Volk, legitimiert wäre.

Der Europäische Gerichtshof hat sich nicht gerade als Hort der Freiheit erwiesen. Wenn der Gerichtshof auch die sogenannten Verkehrsfreiheiten des Binnenmarktes hegt und pflegt, ja manchmal bedenklich ausgeweitet hat, so doch nur im Interesse einer deregulierenden Integration, welche die Wirtschaftsordnungen der Völker zurückdrängt. Die durchaus wirksamen Grundfreiheiten, insbesondere die Warenverkehrsfreiheit, sind zwischenstaatliche Deregulierungsprinzipien, nicht aber Freiheiten im politischen Sinne, wenn auch nach der Praxis des Europäischen Gerichtshofs subjektive Rechte der Unionsbürger. Die Grundrechtspraxis, eine grundrechtliche Wesensgehaltsrechtsprechung, mußte das Bundesverfassungsgericht dem Europäischen Gerichtshof in der Solange-Rechtsprechung (12) geradezu aufdrängen. Zwar hat der Gerichthof grundsätzliche Prinzipien, wie das Verhältnismäßigkeits- und das Vertrauensschutzprinzip als objektive Rechtsgrundsätze zur Geltung gebracht (13), aber noch niemals eine Grundrechtsverletzung durch die Rechtsakte der Gemeinschaft festzustellen vermocht. Im Maastricht-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht, wohl in Sorge um die Effektivität des Grundrechtsschutzes gegenüber der Gemeinschaftsgewalt, die Verteidigung des Grundrechtsstandards, des Wesensgehalts der Grundrechte, wieder in die eigene Verantwortung genommen, wenn auch in einem "Kooperationsverhältnis" mit dem Europäischen Gerichtshof, der in den Einzelfällen die Verantwortung tragen solle (174 f.).

Was in Deutschland und in der Europäischen Union Recht genannt wird, stützt sich im wesentlichen auf Herrschaft, wenn auch liberalistisch konzeptioniert und kompensiert und nicht ohne Humanität. Das Paradigma des Rechts kann jedoch nur die allgemeine Freiheit sein, allemal aufklärerisch; denn die Menschheit des Menschen gibt ihm das Recht, als homo noumenon geachtet zu werden, wie das Art. 1 AEMR gebietet. Als Vernunftwesen ist der Mensch Zweck an sich und frei. Also ist sein Wille aus sich heraus Gesetz. Freiheit ist die Autonomie des Willens und verwirklicht sich damit in der allgemeinen Gesetzlichkeit, im Willen aller oder eben in der allgemeinen Sittlichkeit als allseitiger praktischer Vernünftigkeit.

"Freiheit (Unabhängigkeit von eines anderen nötigender Willkür), sofern sie mit jedes anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz zusammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche, jedem Menschen, kraft seiner Menschheit, zustehende Recht" (Kant, MdS, 345).

3. Nach Kant gibt die Freiheit das Recht auf eine bürgerliche Verfassung, also das Recht auf Recht oder das Recht auf den Staat (im engeren Sinn), der nur Rechtsstaat sein kann. Dieses Recht haben die Menschen, die miteinander leben, d.h. aufeinander einwirken können. Insoweit spricht Kant von einem "wirklichen Rechtsgesetz der Natur" (MdS, 374). Die allgemeine Freiheit ist die Verfassung der Menschen.(14) Jedes Verfassungsgesetz und jedes Gesetz, welches diese Freiheit mißachtet, ist eine Verletzung der Menschheit des Menschen, ist Verfassungsbruch und berechtigt und verpflichtet zum Widerstand oder zur Revolution; denn Revolution ist Befreiung zum Recht.(15) Es gibt keine Legitimationsmöglichkeit für Herrschaft; schon gar nicht rechtfertigt sich Herrschaft durch sich selbst. Herrschaft nötigt andere, nach dem Willen des dominus/des Despoten zu handeln. Herrschaft und Freiheit sind unvereinbar. Fast die gesamte deutsche Staatsrechtslehre dogmatisiert auf der Grundlage des liberalistischen Widerspruchs von Herrschaft und Freiheit. Sie verzichtet damit auf ein Rechtsprinzip, gewinnt aber im Spannungsverhältnis von Herrschaft und Freiheit vielfältiges rhetorisches Potential. Was im Verfassungsgesetz steht, wird mit dem Recht identifiziert und letzteres damit qualifizierten Mehrheiten in den Legislativorganen überantwortet, ein Demokratismus, der das Volk der Parteienoligarchie ausliefert, indem er ein unechtes Mehrheitsprinzip als Rechtsprinzip gelten läßt und damit die Freiheit, die immer die Freiheit aller ist, aufgibt. An die Stelle der politischen Freiheit werden zum notdürftigen Ausgleich Grundrechte (Freiheiten) akzeptiert, die sich aber gegenüber der Herrschaft nur solange zu behaupten vermögen, als die Unabhängigkeit der Gerichte respektiert wird, falls diese die Grundrechte zu verteidigen bereit sind.

Die allgemeine Freiheit kann nicht in unmittelbar demokratischen Verfahren verwirklicht werden. Kant hat den despotischen Charakter der unmittelbaren Demokratie dargelegt (ZeF, 206 f.). Die Republik ist durch die Repräsentativität gekennzeichnet (Kant, ZeF, 206 f.). Nur repräsentativ durch Vertreter des ganzen Volkes kann die allgemeine Freiheit durch allgemeine Gesetze verwirklicht werden; denn der Vertreter tut bereits nach Hobbes dem Vertretenen kein Unrecht(16). Das setzt freilich voraus, daß der Vertreter ausschließlich seinem Gewissen folgt, wie es ihm Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG vorschreibt. Der Vertreter des ganzen Volkes hat in repräsentativer Sittlichkeit zu erkennen, was das Richtige für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit auf der Grundlage der Wahrheit ist, und im Parlament dies mit den anderen Vertretern des ganzen Volkes zu beratschlagen und zu beschließen. Er muß, um zu dem Richtigen als dem allgemeinen Interesse finden zu können, zwar die Lage bestmöglich kennen (theoretische Vernunft), aber sich von allen besonderen Interessen frei machen (praktische Vernunft). Die parlamentarische Rechtserkenntnis muß um der Gesetzgeberschaft des ganzen Volkes willen durch einen Rechtsdiskurs der Bürgerschaft begleitet werden. Ohne Publizität des Erkenntnisverfahrens in den staatlichen Organen sind weder Wahrheitlichkeit noch Richtigkeit der Theorien bzw. der Urteile zu erwarten; denn was die Publizität scheut, ist weder der Wahrheit noch des Rechts fähig (Kant, ZeF, 244 ff.).

4. Der Parteienstaat ist die Verfallserscheinung der Republik(17). Das Versagen der parteilich fraktionierten Parlamente, die von Carl Schmitt kritisierte Entparlamentarisierung der Parlamente ist mit dem Parteienstaat institutionalisiert, weil die Parteienoligarchie die Parlamente abhängig machen kann und zu machen pflegt. Nur wenige Abgeordneten sind fähig, das freie Mandat frei, d.h. sittlich, zu nutzen. Im Parteienstaat, der nicht demokratisch, sondern bestenfalls demokratistisch ist, vermögen plebiszitäre Rechtsetzungsverfahren die demokratische Legitimation und damit das Vertrauen in den Staat zu erhöhen; denn die Vertretung des Volkes in dessen Sittlichkeit ist von der Parteienoligarchie nicht zu erwarten, so daß die (relative) Mehrheit des Volkes, welche abstimmt, der volonté générale näher kommt als die strukturell despotischen Entscheidungen der parteienstaatlich verformten Legislativorgane.

Der überzogene Gesetzesvorbehalt, der die Legislative fast jede staatliche Maßnahme zu beschließen zwingt, überfordert die Parlamente - u.a.m. Die Parlamente sollten durchgehend auf die wesentliche Politik beschränkt sein. Dafür kann die Unterscheidung von Rechts- und maßnahmehaften Verwaltungsgesetzen in einer neuen Differenzierung hilfreich sein. Im Gemeinschaftsrecht ist die legislative von der exekutiven Gesetzgebung besser differenziert. Die Gemeinschaftsverträge leisten die eigentliche Rechtsetzung, an der die unmittelbar (parteien-)demokratisch legitimierten Legislativen der Mitgliedstaaten beteiligt sind. Die Rechtsakte des Rates und der Kommission sind funktional Verordnungen, die nur mittelbar (parteien-)demokratisch legitimiert und deshalb dem Prinzip der begrenzten Ermächtigung unterworfen sind. Diese Differenzierung der Gesetzgebungsaufgaben wird dem legislativen Wesentlichkeitsprinzip gerecht, welches die Substanz des Legislativvorbehalts sein sollte und in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, insbesondere im Maastricht-Urteil, auch ist.

Die allgemeine Freiheit ist das Maß der europäischen Integration. Wirtschaftliche Effizienz vermag diese Integration nur insoweit zu rechtfertigen, als sie nicht zu Lasten der Freiheit geht.

II. Das Internationalitätsprinzip des Grundgesetzes

1. Das Bundesverfassungsgericht hat immer wieder und auch im Maastricht-Urteil hervorgehoben, daß die Europäischen Gemeinschaften oder auch die Europäische Union weder ein Staat noch ein Bundesstaat seien (188). Es weist damit die Integration der Europäischen Union in die Grenzen eines Prinzips deutscher Staatlichkeit, welches in Art. 20 GG verankert und durch Art. 79 Abs. 3 GG gesichert sei (181 ff.)(18). Die Integrationspolitik müsse die "Souveränität" des Staates der Deutschen und die "Unabhängigkeit" der Mitgliedstaaten, also auch Deutschlands, wahren (188 ff.). Das Bundesverfassungsgericht sieht in der Europäischen Union einen "Verbund demokratischer Staaten", eine "Union der Völker Europas", kurz einen "Staatenverbund" (184, 186 ff., 188 ff.). Definiens des Staatsbegriffs des Bundesverfassungsgerichts sind das Selbstbestimmungsrecht des Volkes und dessen "Souveränität", ganz im Sinne des Art. 2 Nr. 1 der Satzung der Vereinten Nationen vom 26. Juni 1945 (190). Dieser Begriff bindet den Staat gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, an ein Volk, dem er das Recht zur Gewalt zuspricht, und an ein Gebiet. Diese Dogmatik ist (ohne Widerspruch zum Grundgesetz) der Drei-Elemente-Lehre verpflichtet, welche den Staat als die Einheit von Gebiet, Volk und Gewalt erfaßt. Das Volk wird dabei den (freilich schwindenden) Gegebenheiten gemäß als Nation begriffen (184 ff.), wie das im Staatsangehörigkeits- und Wahlrecht (noch) zum Ausdruck kommt. Die Gebietlichkeit ist logisch mit dem Wort "alle" in Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG verbunden und in der Präambel des Grundgesetzes durch die Länder der "Deutschen" und damit Deutschlands bestimmt. Der Begriff Deutschland (Präambel, Art. 20 Abs. 1 GG) bezeichnet vornehmlich ein Territorium. Das Volk besteht in Deutschland aus den Deutschen. Das "deutsche Volk" (Präambel, Art. 1 Abs. 2 und Art. 146 GG), die "Deutschen" (Art. 20 Abs. 4 GG und verschiedene Grundrechte) sind die deutsche Nation (19).

Die Staatsgewalt des deutschen Volkes und damit der Staat in Deutschland sind somit sachlich umfassend und gebietlich ausschließlich verfaßt. In Deutschland läßt das Grundgesetz, die Verfassung der Deutschen, keine Staatsgewalt/keine Staatlichkeit zu, welche nicht vom deutschen Volk ausgeht. Der Staat im weiteren Sinne ist damit die deutsche Bürgerschaft, der Staat im engeren Sinne die Gesamtheit der Organe, welche gemäß Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG diese Staatsgewalt namens des Volkes ausüben. Die Bürgerschaft verantwortet in dem Staat des deutschen Volkes, der nationalen Republik, das Recht. Sie hat nach Maßgabe des Verfassungsgesetzes die (gebietlich beschränkte) Hoheit. Wenn sie Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen oder die Europäische Union überträgt, so bleibt die hoheitliche Tätigkeit der Gemeinschaft Ausübung der nationalen Staatsgewalt. Die Hoheitsrechte wandeln ihren Status durch die Übertragung nicht. Die Übertragung kann kraft der nationalen "Souveränität" durch actus contrarius auch wieder rückgängig gemacht werden (190)(20).

Die Rechtmäßigkeit der Ausübung der Hoheitsrechte in Gemeinschaft mit anderen Völkern hängt von dem jeweiligen nationalen Verfassungsgesetz ab. Die Verfassungsgesetzgebungshoheit hat allein die jeweilige Nation, von der als Volk alle Staatsgewalt ausgeht. Vor allem darin ist der Staat einer solchen Nation existentiell. Die Gemeinschaftsorgane werden mittels der Übertragung der nationalen Hoheitsrechte auf die jeweilige Gemeinschaft in die Organisation der nationalen Staatsgewalt, des nationalen Staates im engeren Sinne also, integriert. Die daraus erwachsende Gemeinschaftsgewalt gehört zur jeweils nationalen Staatsgewalt und wird um der Rechtsgemeinschaft der Völker willen gemeinschaftlich ausgeübt. Sie ist somit nicht im eigentlichen Sinne supra-, sondern international (21). Insbesondere die Legitimation der Gemeinschaftsgewalt ist national, weil alle Staatsgewalt vom Volke als Nation ausgeht. Eine im Anschluß an den Europäischen Gerichtshof überwiegend gelehrte supranationale "autonome, eigenständige Rechtsordnung" der Gemeinschaft aus einer "autonomen Rechtsquelle"(22) läßt der nationale Charkter des grundgesetzlichen demokratischen Prinzips nicht zu. Das Bundesverfassungsgericht hat den Begriff der autonomen Rechtsquelle im Maastricht-Urteil nicht mehr benutzt (23).

Die Verbindlichkeit der Rechtsakte der Gemeinschaft, deren Rang und Anwendbarkeit, folgt aus dem Verfassungsgesetz des jeweiligen Volkes, nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts aus dem Rechtsanwendungsbefehl (190)(24), wenn der Mitgliedstaat seine Zustimmung zum jeweiligen Gemeinschaftsvertrag mit dessen vielfältigen institutionellen, prozeduralen und materiellen Vorschriften gibt. Ein Rechtsanwendungsbefehl würde freilich eine fremde Rechtsordnung voraussetzen, während die gemeinschaftlichen Rechtsakte schon deshalb zur nationalen Rechtsordnung gehören, weil die Rechtsetzungsorgane der Gemeinschaft in die Organisation der nationalen Staatlichkeit des jeweiligen Volkes integriert sind. Der politische Wille des jeweiligen Volkes wird durch die Gemeinschaftsrechtsakte verfassungsgemäß materialisiert; denn die Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane sind wie die der nationalen Organe Erkenntnisakte der jeweils nach dem nationalen Verfassungsgesetz zuständigen Gesetzgeber. Die zur Gemeinschaft vereinigten Völker haben die Verbindlichkeit der Rechtsakte der Gemeinschaftsorgane gemäß ihren Verfassungsgesetzen und kraft der gesetzlichen Zustimmung zu den Gemeinschaftsverträgen in ihren nationalen Willen aufgenommen (im übrigen auch kraft ihrer Freiheit); denn freiheitlich folgt rechtliche Verbindlichkeit ausschließlich aus dem Willen der Bürger. Freiheit ist Autonomie des Willens. Die Gesetze haben im Europa der nationalen Republiken somit nationalen und demgemäß die Gemeinschaftsgesetze internationalen Status, anders als das Recht, welches über den Gesetzen steht. Dieses hat einen supranationalen, nämlich einen humanen Charakter; denn es ist mit den Menschen geboren.

2. Die europäische Republik ist nach der verfassungsgesetzlichen Lage durch die Völker und deren Republiken bestimmt. Die Völker sind "Herren der Veträge" dieser "Union der Völker Europas", judiziert das Bundesverfassungsgericht (184, 186, 188 ff.). Sie ist als Rechtsgemeinschaft Staat im Sinne des kantianischen Staatsbegriffes, freilich ein Staat, der nur einen Teil der funktionalen Staatlichkeit der Völker erfaßt. Im republikanischen Sinne ist die Europäische Union Gemeinschaftsstaat der Völker Europas und wird (wie zu 1. dargelegt) von dem Willen dieser Völker getragen. Der europäischen Republik korrespondiert aber kein zu einem Staat organisiertes Volk, welches zur organschaftlichen Willensbildung befugt wäre, "kein sich auf ein europäisches Staatsvolk stützender Staat" (188), geschweige denn eine Nation. Die europäischen Völker sind in ihrer "Unabhängigkeit" und "Souveränität" Träger der Gemeinschaft und des Gemeinschaftsrechts (189). Gewissermaßen kann man die Europäische Union als einen Bundesstaat bezeichnen, wenn man diesen als einen institutionell und funktional staatlichen Bund von existentiellen Staaten begreift. Von einem solchen Begriff her wäre allerdings die Bundesrepublik Deutschland kein Bundesstaat, sondern ein föderalisierter Einheitsstaat. Die Europäische Union jedoch ist in ihrer gegenwärtigen durchaus unterschiedlichen Gestalt eine Republik der Republiken, der von Kant konzipierte "Föderalism freier Staaten" (ZeF, 208; MdS, 466 ff.).

Als Republik der Republiken, in der die Völker als existentielle Staaten zusammenwirken, um gemeinschaftliche Angelegenheiten, vor allem einen Binnenmarkt, gemeinschaftlich zu bewerkstelligen (gemäß dem Grundgesetz das Konzept des Bundesverfassungsgerichts, 184 ff., 188 ff., insb. 190), sind die Völker Europas die Träger der europäischen Republik, deren institutionelle und funktionale Staatlichkeit keinen Staat im existentiellen Sinne hervorgebracht hat und rechtens hervorbringen kann. Aus der Sicht eines solchen Staatsbegriffs gibt es auch kein "europäisches Staatsvolk", wie das Bundesverfassungsgericht ausgesprochen hat (184 ff., 188). Ob es ein solches europäisches Volk im staatsrechtlichen Sinne gibt, hängt vom Begriff des Staates ab; denn es gibt keinen Staat ohne Menschen. Die staatlich verfaßte Menge von Menschen nennt Kant das Volk (MdS, 429). Die gemeinschaftliche Staatlichkeit der Europäischen Union, die wohlorganisierte Rechtsgemeinschaft, kann als inter- oder auch (je nach den Befugnissen) supranationaler Staat bezeichnet werden, wenn man den republikanischen Staatsbegriff Kants, der den Staat als Rechtsgemeinschaft begreift (MdS, 431), zugrunde legt. Eine Rechtsgemeinschaft muß nicht das ganze Leben der verbundenen Menschen erfassen, so daß ein Staat in diesem Sinne weitere Staaten für andere Gemeinschaften der Menschen nicht ausschließt. Wenn jedoch der Begriff des Staates mit der Gebietshoheit verbunden wird und die Gebietshoheit dem Prinzip der Einzigkeit der Gewalt, richtiger dem Prinzip der territorialen höchsten Gewalt, folgen soll, bietet sich ein solcher Staatsbegriff nicht an. Lehre und Praxis folgen gemäß der Drei-Elemente-Lehre dem von der Gebietshoheit bestimmten Staatsbegriff des sogenannten Modernen Staates. Auch insofern drängen die Lebensverhältnisse, Ordnungen zu bedenken, welche sich von den Prinzipien dieses Modernen Staates, der von der (im übrigen meist herrschaftlich dogmatisierten) Gebietshoheit geprägt ist, lösen und zu ebenso weltbürgerlichem (Kant, MdS, 475 ff.; ZeF, 213 ff.) wie freiheitlichem Recht finden. Die große Epoche des Modernen Staates geht ihrem Ende zu. Die europäische Integration dürfte nur eine befristete Etappe zur notwendigen Integration der Welt sein. Weltrechtliche Prinzipien sind längst in Kraft, die Menschenrechte und bestimmte Ordnungselemente der Wirtschaft. Die ökonomischen und ökologischen Gegebenheiten sind gebieterisch.

Die Europäische Union ist eine Vertragsgemeinschaft und die Völker sind in ihrer Nationalität jedenfalls aus der Sicht des Grundgesetzes die Herren der Verträge (190). Jedes einzelne Volk entscheidet sein Schicksal allein und kann sich aus der Gemeinschaft lösen (190, auch 187 f.), wie schon Kant gelehrt hat (MdS, 467). Weil die jeweiligen Völker die existentiellen Staaten bilden, welche die Hoheit innehaben, hängen Bestand und Entwicklung der europäischen Republik vom Willen der Völker und deren staatlicher Entwicklung ab. Diese europäische Republik der Republiken ist das Modell 1 der Republik der Völker Europas.

III. Zum Homogenitätsargument für die Nationalität der europäischen Staaten

1. Spätestens seit Winston Churchills Nachkriegsrede vom 19. September 1946 in Zürich, in der er die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa empfohlen hat, ist wesentliche Triebfeder der Integration der Völker Europas der europäische Frieden - ganz im Sinne des philosophischen Friedensentwurfs Immanuel Kants, wenn auch auf Europa beschränkt. Die geschichtliche Entwicklung hat zur existentiellen Staatlichkeit der europäischen Nationen geführt. Deren Lagegerechtigkeit ist unabhängig von der Friedenspolitik wegen der ökonomischen und ökologischen aber auch wegen sonstiger Entwicklungen fraglich geworden. Eine spezifische nationale Homogenität rechtfertigt jedenfalls die umfassende und ausschließliche Staatlichkeit der Völker nicht mehr. Irenäus Eibl-Eibesfeldt hat die anthropologische Homogenität der Europäer festgestellt (25).

Noch immer sind die unterschiedlichen Sprachen der Völker Europas ein gewichtiges Homogenitätsargument für deren eigenständige existentielle Staatlichkeit (185 f.). An dem republikanischen Diskurs um das Richtige für das gute Leben aller in allgemeiner Freiheit auf der Grundlage der Wahrheit müssen sich der Idee der Menschheit des Menschen gemäß alle in bestmöglicher Sprache beteiligen können (26). Dieses Argument trägt jedoch trotz einer gewissen politischen Einheit aus der einheitlichen Sprache die staatliche Trennung der Völker nicht, weil die politische Willensbildung im gemeinsamen Staat auch mit verschiedenen Sprachen und in verschiedenen Völkern nicht ausgeschlossen ist, zumal gelungene Kommunikation auch von manch anderen Voraussetzungen als der Sprache abhängt. Die Spracheinheit schafft nicht eine derartig bestimmte Homogenität, daß nicht über die Sprachgrenzen hinaus ein einheitlicher Staat bestehen kann, wie u.a. das Beispiel der Schweiz und mittlerweile die Europäische Union selbst zeigen, zumal nicht, wenn die sogenannten nationalen Identitäten hinreichend gewahrt werden, wie das Art. F Abs. 1 EUV vorsieht.

2. Die Völker sind wesentlich durch ihre staatliche Einheit Schicksalsgemeinschaften. Wenn sich die Lebensverhältnisse in der Gemeinschaft auch angenähert haben, so besteht bisher weder eine ökonomische noch gar eine soziale Homogenität unter den Völkern Europas. Diese wird durch die Konvergenzkriterien der Währungsunion (27) nicht gemessen. Das Unionsrecht soll, wie der 6. Erwägungsgrund der Präambel des Unionsvertrags zeigt, die "Konvergenz der Volkswirtschaften" herbeiführen. Die staatliche Einheit verantwortet die ökonomische Lage und den sozialen Stand. Beides könnte auch durch die Europäische Union geleistet werden, anders und nicht notwendig schlechter als durch die Mitgliedstaaten. Ein zwingendes Argument ist die gegenwärtige ökonomische und soziale Einheit der Völker gegenüber einer staatlichen Einheit Europas, welche eine ökonomische und soziale Einheit aller Europäer mit sich brächte, nicht, zumal erstere längst brüchig geworden ist, insbesondere durch die industrielle Globalisierung. Aus dem Sozialprinzip ist es Pflicht der Völker, das gemeinsame, insbesondere das soziale, Schicksal zu tragen. Das gehört zu ihrer Sittlichkeit. Aber auch die Bereitschaft, das Schicksal aller Europäer gemeinschaftlich zu tragen, ist Pflicht aller Europäer; denn die Pflicht zur Nächstenliebe kennt keine Staatsgrenzen. Die allgemeine Freiheit, die mit der Gleichheit aller und der Brüderlichkeit untereinander untrennbar als einheitliches Ideal verbunden ist, verpflichtet zu einer europäischen Rechtsgemeinschaft, welche die Bürgerschaften nicht nur gegenseitig und allseitig vor Schädigungen sichert, sondern wegen des gemeinsamen Lebens auch zur ökonomischen und sozialen Verantwortungsgemeinschaft verpflichtet, soweit diese vom Rechtsprinzip gefordert ist.

Das Gemeinschaftsrecht zielt auf "sozialen Fortschritt" (7. ErwG der Präambel sowie Art. B 1. Spst. EUV und auch Art. 2 EGV), eben auf die Sozialunion (28), welche durch "Solidarität zwischen ihren Völkern" (4. ErwG der Präambel des EUV sowie Art. 2 EGV: "Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten") verwirklicht werden soll. Die Entscheidung für die Wirt-schafts-, Währungs- und Sozialunion ist zugleich die Entscheidung für die gemeinsame Verantwortung für einheitliche Lebensverhältnisse aller Unionsbürger. Mangelnde ökonomische oder soziale Homogenitäten haben jedenfalls das Bundesverfassungsgericht nicht veranlaßt, die Entwicklung der europäischen Integration zu bremsen. Einen Auftrag zur sozialen Demontage gibt das Integrationsprinzip freilich nicht. Der deregulierte Markt soll nicht soziale Besitzstände reduzieren, sondern die Wirtschaftskraft stärken. Das war jedenfalls die Idee und Rechtfertigung des großen Marktes in Europa. Realiter dürfte sich das Ziel der Sozialunion ökonomisch und deswegen politisch auf absehbare Zeit als illusionär erweisen, wenn etwa die deutschen Besitzstände Maßstab der Lebensverhältnisse in Europa sein sollen. Vorerst verstärkt die Deregulierung die Dominanz des Kapitals und setzt die soziale Realisation Gefahren aus. Noch hat die Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion keine Erfolgschance. Der Versuch, sie mittels der einheitlichen Währung zu ertrotzen, gefährdet das Integrationswerk.

3. So sehr eine hinreichende Homogenität Voraussetzung freiheitlicher Gemeinwesen, von Republiken also, ist, so wenig kann den Bürgern Europas, den Menschen, die erforderliche Homogenität für einen gemeinschaftlichen Staat im existentiellen Sinne abgesprochen werden.

Für ein aufklärerisches Recht kommt es nur auf eine Homogenität der Menschen an, auf die des guten Willens zum gemeinsamen Leben in Freiheit, also auf die allgemeine Fähigkeit zur praktischen Vernunft, welche nach dem Weltrechtsprinzip der Vernunft- und Gewissensbegabung aller Menschen (Art. 1 AEMR) niemandem abgesprochen werden darf. Noch jedoch sind die politischen Verhältnisse weitestgehend Ergebnis geschichtlicher Ereignisse, nicht die praktischer Vernunft, d.h. der Erkenntnisse des Rechts. Gewachsene Verhältnisse schaffen Vertrauen. Aufklärerische Radikalität ängstigt. Nur die sorgsame Entwicklung der Ordnungen verspricht für den Fortschritt der Integration als Fortschritt zum Recht Chancen. Auch Kant hat dem behutsamen Fortschritt zum Recht vertraut und von "Ungestüm" abgeraten (ZeF, 233 f.; StdF, 365 ff.). Er hat die Evolution der Revolution vorgezogen (StdF, 367). Aber es ist auch an das apriorische Recht auf Recht zu erinnern, an die Pflicht, die Verfassungsgesetze der Verfassung der Menschen, der allgemeinen Freiheit, anzupassen (Kant, MdS, 365 f., 430 f.). Diese Entwicklung anzumahnen, ist Kant nicht müde geworden.

IV. Die weitere Integration der europäischen Republik

1. Die Europäische Union kann nach dem Grundgesetz keine Entwicklung nehmen, welche die national definierten Völker transzendiert. Das Bundesverfassungsgericht hat im Maastricht-Urteil (171 f., 182 ff., 185 ff.) die Grenzen der Integration Deutschlands aufgezeigt, welche vor allem Art. 20 GG i.V.m. Art. 79 Abs. 3 GG zieht.

Wenn (ganz unabhängig von den Verfassungsgesetzen) rechtens nur die Völker, wie sie derzeit in Europa leben, das gemeinsame Leben ordnen und damit das Recht materialisieren dürfen würden, wenn die Völker etwa wegen des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts (Art. 1 Nr. 2 der Charta der Vereinten Nationen) die Hoheitsträger bleiben müßten, von denen alle Staatsgewalt ausgeht, wären der weiteren Integration Europas enge Grenzen gezogen; denn das mit der existentiellen Staatlichkeit der Völker aus Freiheitsgründen verbundene Prinzip der demokratischen Legitimation des Staatlichen läßt nur die begrenzte Gemeinschaftsgewalt zu, welche das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Urteil herausgearbeitet hat. Insbesondere einem echten Parlamentarismus der Gemeinschaft wären unübersteigbare Hindernisse entgegengestellt. Die nationale Verantwortung für das gemeinsame Leben spricht auch für das Prinzip des letzten Wortes nationaler Gerichte in Sachen des Rechts (174 f., 178). Ihre Verfassungshoheit gibt den Völkern zwar das Recht, Völkergemeinschaften beizutreten, aber auch das Recht, diese wieder zu verlassen. Die Schicksalsgemeinschaft des Volkes zieht auch eine europäische Wirtschafts- und Sozialunion in Zweifel und löst durchgreifende Bedenken gegen eine Währungsunion aus, zumal diese nur auf der Grundlage einer politischen Union Erfolg verspricht (29) und darum eine solche, d.h. eine existentielle Staatlichkeit der Europäischen Union, erzwingt (und wohl auch erzwingen soll).

2. Für die Entwicklung der europäischen Republik ist der Lage nach der politische Wille der Völker als die geschichtlich gewachsenen nationalen Schicksalsgemeinschaften maßgeblich, weil die allgemeine Freiheit gegenwärtig in den Völkern durch deren Staatlichkeit (mehr schlecht als recht) verwirklicht ist. Diese Völker haben ihr gemeinsames Leben in existentieller Staatlichkeit organisiert. Darum muß die staatliche Integration Europas von Europas Staaten betrieben werden. Das bedarf dahingehender Verfassungsgesetze und damit des geklärten Integrationswillens der Völker, auch und insbesondere in Deutschland. Das Grundgesetz verfaßt eine existentielle Staatlichkeit Deutschlands und läßt einen existentiellen Staat Europas nicht zu. Das Bundesverfassungsgericht hat daran im Maastricht-Urteil keinen Zweifel gelassen (182 ff.).

Die von den Nationen bestimmte Europäische Union ist in ihrer Verfaßheit demgemäß noch dem europäischen Nationalismus verhaftet. Anders als mit Rücksicht auf die nationalen Verhältnisse läßt sich die europäische Republik auch kaum aufbauen. Nach den verheerenden europäischen Kriegen mußten die Völker Europas zunächst Vertrauen zueinander finden. Demgemäß haben sie ihre existentielle Staatlichkeit gewahrt. Noch scheint ein Vertrauen, welches einen existentiellen Staat Europa tragen könnte, nicht gewonnen. Der Versuch, die politische Union mittels der Währungsunion zu erzwingen, birgt das Risiko der erneuten Entfremdung der Völker und des Scheiterns des für den Frieden als die allgemeine Freiheit richtigen Integrationswerkes. Allerdings kann sich der wesentlich durch Vertrauen bestimmte Wille der Menschen ändern und er muß sich ändern, wenn die Lage das erfordert, weil sonst alle Schaden nehmen.

Die Völker Europas wollen eine "immer engere Union" anstreben (Art. A Abs. 2 EUV), deren Gestalt aber Sache weiterer Verträge ist. Die Ermächtigung des Europäischen Rates, die Verfassung der Europäischen Union weiter zu entwickeln, welche sich in dem weiten Wortlaut des Art. F Abs. 3 EUV verbarg (30), ist im Maastricht-Prozeß gescheitert (194 ff.). Ob also die Völker Europas die politische Einheit ihres kleinen Erdteils im Sinne eines existentiellen Staates und dementsprechend eines einheitlichen Staatsvolkes als eine alle wesentlichen Lebensbereiche umfassende Schicksalsgemeinschaft anstreben oder anstreben wollen, ist vertraglich nicht geklärt. Ausweislich der Gemeinschaftsverträge, wie sie das Bundesverfassungsgericht im Maastricht-Prozeß gelesen hat, ist es der Wille der Mitgliedstaaten, in dem Staatenverbund als einem Föderalismus freier Staaten, in einer Republik der Republiken also, zu leben.

Ein europäisches Volk im nationalen Sinne, welches als solches die staatliche Einheit im existentiellen Sinne aufgrund des völkerrechtlichen Selbstbestimmungsrechts beanspruchen kann, gibt es jedenfalls nach allgemeiner Auffassung bisher nicht (188). Ein solches europäisches Volk müßte im übrigen auch die mittel- und osteuropäischen Nationen einbeziehen.

3. Unter Freiheitsgesichtspunkten lassen sich durchgreifende Argumente gegen die Integration Europas zu einem Staat im existentiellen Sinne nicht ausmachen, wenn das Prinzip der kleinen Einheit (31) bestmöglich durch Föderalität und Subsidiarität gewahrt bleibt.

Art. F Abs. 1 EUV verpflichtet denn auch die Union, "die nationale Identität der Mitgliedstaaten zu achten." Die nationale Identität im Sinne dieser Vertragsbestimmung ist nicht die existentielle Staatlichkeit, wie es das Bundesverfassungsgericht zu sehen scheint (213), sondern die kulturelle Identität, welche insbesondere die nationalen Sprachen meint. Der Föderalismus jedoch, etwa in der Art der deutschen Bundesstaatlichkeit, wird durch Art. F Abs. 1 EUV gesichert. Ein Regionalismus, wie er in den Art. 198 a ff. EGV geregelt ist, genügt den Anforderungen eines möglichen Föderalismus eines europäischen Staates noch nicht. Er würde ohne die Staatlichkeit der Völker auch dem Subsidiaritätsprinzip des Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG und des Art. 3 b EGV nicht gerecht (210 ff.), welches wegen Art. F Abs. 1 EUV, im Interesse der nationalen Identität der Mitgliedstaaten also, die bestmögliche Nationalität der Staatlichkeit vertraglich stützt. Allerdings kann das Prinzip der nationalen Identität die Pflicht zur Gründung einer existentiellen europäischen Republik nicht aufheben, wenn diese vom Rechtsprinzip der allgemeinen Freiheit gefordert ist.

Die kleine Einheit ist ein Strukturprinzip des Republikanismus, ohne welches die politische Freiheit, die Idee der Polis, ausgehöhlt wäre. Das Konzept der Bürgernähe (11. ErwG der Präambel sowie Art. A Abs. 2 EUV) und durchaus auch der Regionalismus sollen dem Prinzip der kleinen Einheit entgegenkommen, bleiben aber in der Konzeption und in der bisherigen Realisierung weit hinter dem Föderalismus und dem Kommunalismus Deutschlands zurück.

Die Integration ist insoweit freiheitlich geboten, als die Europäer zusammenleben oder aufeinander einwirken können; denn insoweit besteht das Recht auf die Rechtsgemeinschaft, für alle Europäer und nicht nur für diese. Die Integration zur föderalisierten Republik Europa als existentieller Staat wäre das Modell 2 einer Republik der Völker Europas. Die Völker Europas würden in diesem Modell zu einem Volk im staatsrechtlichen Sinne und vielleicht auch einmal zu einer Nation. Die Konzeption dieses Modells ist jedenfalls nationalstaatlich. Sie überträgt gewissermaßen das bundesstaatliche Verfassungsmodell Deutschlands auf Europa.

V. Ein Konzept einer supranationalen Republik Europas

Die Dogmatik einer europäischen Republik der nationalen Republiken, also der Volksstaaten im existentiellen Sinne (Modell 1), ist vom Grundgesetz geboten. Ob aber diese Rechtslage den europäischen Lebensverhältnissen noch genügt, ist fraglich. Die Integrationspraxis läßt sich denn auch mit der existentiellen Staatlichkeit der Völker nicht mehr vereinbaren, jedenfalls nicht die konzipierte Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, welche aber den Zielen des Art. 2 EGV entspricht. Auch eine europäische Republik als existentieller, wenn auch föderalisierter, Staat (Modell 2) setzt neue Verfassungsgesetze der Völker voraus.

Das Rechtsprinzip gibt Weisung für eine friedliche Staatlichkeit. Alle Menschen nämlich, die aufeinander einwirken können, sind nach Kant um des allgemeinen Friedens willen verpflichtet, sich einer bürgerlichen Verfassung zu unterwerfen, d.h. miteinander eine Gemeinschaft des Rechts, einen Staat also, zu bilden, weil sie sonst in einem "Zustand der Rechtlosigkeit (status iustitia vacuus)", dem Naturzustand, verbleiben (MdS, 430 f.). Das Recht auf Recht gegenüber allen, mit denen man zusammenlebt, folgt aus dem Freiheitsprinzip selbst (Kant, MdS, 365 f., 429 ff.). Diese formale Sicht aus dem Freiheitsprinzip führt zu dem ebenso formalen Volksbegriff Kants, der "eine Menge von Menschen" als Volk begreift, "die, im wechselseitigen Einflusse gegen einander stehend, des rechtlichen Zustandes unter einem sie vereinigenden Willen, einer Verfassung (constitutio) bedürfen, um dessen, was Rechtens ist, teilhaftig zu werden" (MdS, 429). Kant nennt keinerlei weitere Kriterien des Volksbegriffs, auch nicht das irgendeiner Homogenität. Der kantianische Volksbegriff ist insbesondere nicht national.

Eine Verfassung nach dem Rechtsprinzip setzt nicht etwa die allgemeine Aufgeklärtheit der Bürger voraus, sondern wird durch eine Organisation des Gemeinwesens möglich, welche bestmöglich das Recht zu verwirklichen die Chance bietet; denn die Verfassung muß auch ein "Volk von Teufeln" zum Recht führen, "wenn diese nur Verstand haben" (Kant, ZeF, 224).

Die europäische Republik, in der nicht mehr die Völker in ihrer Verschiedenheit und auch Nationalität Hoheitsträger und damit Träger der Gemeinschaftsgewalt sind, sondern die Bürger in ihren vielfältigen engeren und weiteren Lebensverhältnissen, wäre das Konzept einer freiheitlichen Rechtsgemeinschaft für die europaweiten Angelegenheiten. Neben dieser Republik würde es für andere Lebensverhältnisse weitere Republiken als Rechtsgemeinschaften der betroffenen Bürger geben (Modell 3). Das fundamentale demokratische Prinzip, daß alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, wäre überholt. Das demokratische Prinzip ist in Europa national definiert (182 ff.).

Jahrhundertelang waren die Territorialstaaten durch das Prinzip der Einzigkeit einer höchsten Gewalt gestaltet. Die Möglichkeit menschlicher Gewalt nötigt jedoch auch weiterhin, die Durchsetzung des Rechts zu sichern. "Das Recht ist mit der Befugnis zu zwingen verbunden", lehrt Kant (MdS, 338 f.). Die Menschheit kann nicht darauf hoffen, daß hinreichende Legalität durch Moralität geschaffen werde. Auf einen Leviathan wird man nicht verzichten können, wenn dieser auch nicht alle staatlichen Befugnisse vereinen muß, wie das Hobbes konzipiert hat (32). Die verschiedenen Rechtsgemeinschaften der Bürger können nicht alle mit unüberwindlicher Gewalt ausgestattet sein, weil das den Frieden gefährden würde. In Betracht kommt eine höchste Gewalt der europäischen Republik, deren Aufgabe es wäre, das Recht der verschiedenen Rechtsgemeinschaften zu sichern. Ein solcher Integrationsschritt setzt das Vertrauen der Bürger Europas in europäische Vollzugsorgane voraus. Derzeit haben die Mitgliedstaaten die höchste Gewalt. Das entspricht dem nationalen Charakter der Völker und ihrer Verfassungsgesetze und wahrt die legitimatorische und die gebietshoheitliche Einheit. Solange und soweit die europäische Republik die höchste Gewalt den Mitgliedstaaten beläßt, ist ihre Gemeinschaft nicht supra-, sondern international. Daß eine höchste Gewalt der europäischen Republik nur durch einen Verfassungsakt der Bürger Europas herbeigeführt werden kann, versteht sich. Er würde voraussetzen, daß die Völker Europas sich für eine solche Integration durch Referenden öffnen.

Die Idee der Republik Europas kann nur von dem aufklärerischen Begriff des Staates bestimmt sein, weil nur dieser Begriff die Grundlage der konzipierten Sozialunion und damit auch der fast schon ins Werk gesetzten Wirtschafts- und Währungsunion, insgesamt einer politischen Union, sein kann. Der Versuch angesichts der Nationalität der Staaten Europas, diese Idee zu realisieren, ist das geschichtliche Wagnis der europäischen Integrationspolitik. Ein Europa der staatlich organisierten Völker jedenfalls wird ein dauernder Widerspruch sein, wenn dieses Europa zugleich eine Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion sein wird. In dem supranationalen Europa würden die Völker ihre staatliche Identität einbüßen, wenn auch ihre kulturelle Eigenart, staatsrechtlich vor allem gestützt durch den Föderalismus und die Subsidiarität, als nationale Identität wahren können. Die Kommunalität wäre erst noch in das Integrationswerk einzuarbeiten.

Angesichts dessen, daß der nationale Charakter der Völker zunehmend auf die Staatsangehörigkeit der Menschen reduziert ist, muß der Abschied von dem demokratischen Staatsprinzip nicht betrüben, wenn an dessen Stelle ein republikanisches Staatsprinzip tritt, welches der Vielfalt der Lebensverhältnisse, aber auch den modernen Kommunikationsverhältnissen besser gerecht wird. Leitprinzip des gemeinsamen Lebens ist aufklärerisch der Bürger, nicht das Volk (als Nation). In der sogenannten Zivilgesellschaft, im Bürger-Staat, d. h. in der Republik, verblaßt die staatsrechtliche Relevanz des Volksbegriffs. Die zivilisatorische Entwicklung hat, geprägt durch die weltweit agierenden Industrien und Medien, die kulturellen Besonderheiten der Nationen ohnehin eingeebnet und jedenfalls in Europa zu einem hohen Maß an Nivellierung der Lebensverhältnisse geführt. Dennoch fällt es, gewöhnt an das fundamentale Prinzip des Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG, wonach alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, schwer, eine Republik Europas ohne Völker zu reflektieren.

VI. Mahnung zur behutsamen Entwicklung der Republik Europa

Die alle Politik leitende Maxime muß der Frieden sein. Darum muß fortschreitende europäische Verfassungspolitik auch Irrationalitäten in Rechnung stellen. Übereilte Maßnahmen, vielleicht durch persönlichen Ehrgeiz motiviert, kann das gemeinsame Haus, die europäische Republik, noch vor dessen Fertigstellung zum Einsturz bringen. Die europäische Integration zielt auf die Aufgeklärtheit der Menschen, die mit Propaganda wenig gefördert wird. Wer den Integrationsdiskurs scheut, ist als Architekt des europäischen Hauses ungeeignet. Das faire Verfahren zum vereinten Europa kann das Vertrauen schaffen, welches in Notzeiten dessen Bestand zu stützen vermag. Noch sind die Staaten der Europäischen Union ihrer jeweiligen nationalen Lage verbunden. Viele Bürger scheinen noch nicht bereit, sich von ihrer Nationalität zu lösen. Aufgeklärtheit ist jedoch mit dem europäischen Paradigma der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit unlösbar verknüpft. Sie gebietet, das Gemeinwesen nach Rechtsprinzipien zu ordnen.

Anmerkungen:

1 Der Aufsatz entwickelt den genauer belegten Beitrag "Die Republik der Völker Europas" in: R. Gröschner / M. Morlok (Hrsg.), Rechtsphilosophie und Rechtsdogmatik in Zeiten des Umbruchs, Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beiheft 71, 1997, S. 153 ff., weiter.

2 Das Maastricht-Urteil (2 BvR 2134/92, 2 BvR 2159/92) vom 12. Oktober 1993 (BVerfGE 89, 155 ff.) hat die von mir vertretene Verfassungsbeschwerde M. Brunners zum Teil verworfen und zum Teil zurückgewiesen, aber die europäische Verfassungspraxis wesentlich korrigiert. Bloße Zahlen in Klammern des Textes sind Seitenzahlen dieses Urteils aus der Amtlichen Sammlung.

3 K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas und die staatliche Integration der Europäischen Union, in: W. Blomeyer / K. A. Schachtschneider (Hrsg.), Die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft, 1995, S. 79 ff., 87 ff., 111 ff., auch zum Folgenden.

4 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, Grundlegung einer Allgmeinen Republiklehre. Ein Beitrag zur Freiheits-, Rechts- und Staatslehre, 1994, S. 9 f.; ders. (O. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution. Kritik der Altschuldenpolitik. Ein Beitrag zur Lehre von Recht und Unrecht, 1996, auch zum Folgenden; ders., Die republikanische Freiheit, in: B. Ziemske/T. Langheid/H. Wilms/G. Haverkate (Hrsg.), Staatsphilosophie und Rechtspolitik, Festschrift Martin Kriele, 1997, S. 829 ff.; W. Maihofer, Prinzipien freiheitlicher Demokratie, in: E. Benda / W. Maihofer / H. J. Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, S. 427 ff., auch S. 1699 ff.; M. Kriele, Die demokratische Weltrevolution, Warum sich die Freiheit durchsetzen wird, 1987, S. 49 ff.

5 H. Küng, Projekt Weltethos, 3. Aufl. 1991, S. 81 ff., insb. S. 84; M. Kriele, Die demokratische Weltrevolution, S. 112 ff.

6 Kant wird nach der Edition von W. Weischedel jeweils im Text in Klammern mit den gebräuchlichen Abkürzungen zitiert.

7 De re publica, ed. Büchner 1979, S. 144

8 Dazu K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 272 f.

9 K. A. Schachtschneider, Staatsunternehmen und Privatrecht. Kritik der Fiskustheorie, exemplifiziert an § 1 UWG, 1986, S. 107 ff., 125 ff.; ders., Res publica res populi, S. 259 ff.; ders., Das Sittengesetz und die guten Sitten, in: B. Becker / H. P. Bull / O. Seewald (Hrsg.), Festschrift für Werner Thieme zum 70. Geburtstag, 1994, S. 195 ff.

10 Zum Folgenden K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 114 ff.

11 Dazu Th. C. W. Beyer, Die Ermächtigung der Europäischen Union und ihrer Gemeinschaften, Der Staat 35 (1996), S. 189 ff.

12 BVerfGE 37, 271 (280 ff.); 73, 339 (376 ff., 386 f.).

13 Dazu A. Emmerich-Fritsche, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als Direktive und Schranke der EG-Rechtsetzung, Diss. 1997.

14 K. A. Schachtschneider (O. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution, S. 29 ff., 50 ff.

15 K. A. Schachtschneider (O. Gast), Sozialistische Schulden nach der Revolution, S. 50 ff.

16 Leviathan, ed. J. P. Mayer/M. Diesselhorst, Reclam, 1980, 28. Kap., S. 160.

17 W. Maihofer, HVerfR, S. 1709 ff. ("Deformation und Perversion von Prinzipien der Demokratie wie der Republik im Parteienstaat der Gegenwart"); K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 166 ff., 772 ff., 1045 ff., auch zum Weiteren.

18 K. A. Schachtschneider, Die Europäische Union und die Verfassung der Deutschen, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 28/93, S. 3 ff.; ders., Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 111 ff.; ders. / A. Emmerich-Fritsche /Th. C. W. Beyer, Der Vertrag über die Europäische Union und das Grundgesetz, JZ 1993, 757 ff.; ders., Res publica res populi, S. 1192 f.; auch P. Kirchhof, Brauchen wir ein erneuertes Grundgesetz?, 1992, S. 36 ff., insb. S. 42.

19 BVerfGE 36, 1 (16 ff.); 77, 137 (158 ff.).

20 So schon K. A. Schachtschneider / A. Emmerich-Fritsche / Th. C. W. Beyer, JZ 1993, 758 f. (Prinzip der dauernden Freiwilligkeit); auch K. A. Schachtschneider, Die existentielle Staatlichkeit der Völker Europas, S. 101 f.

21 Supranationalität, ein strittiger Begriff. Sie läßt sich als die Hoheitlichkeit (Gewalt) von Institutionen verstehen, deren Maßnahmen unabhängig vom Willen der Nationen (Völker) verbindlich sind und durchgesetzt werden können. Die Rechtsakte der Gemeinschaften sind jedoch als Wille der Nationen verbindlich und werden von deren Organen durchgesetzt. Art. 24 Abs. 1 GG hat auch nur die Internationalität der Ausübung der Staatsgewalt zugelassen, nämlich die "Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen". Die gemeinschaftlich ausgeübten Hoheitsrechte sind national. Darum sind die Gemeinschaftsrechtsakte, auch wenn sie unmittelbar von den Organen der Mitgliedstaaten anzuwenden sind, wie die Verordnungen nach Art. 189 Abs. 2 EGV noch nicht supranational, zumal diese Rechtsakte dem Prinzip der begrenzten und bestimmten Ermächtigung gemäß ausführungshaft und exekutivistisch sind. Supranational werden die Maßnahmen der Europäischen Zentralbank sein, weil deren Geldpolitik unmittelbar wirkt und keiner weiteren Durchsetzungsakte fähig und bedürftig sind, zumal sie nicht hinreichend demokratisch legitimiert ist.

22 EuGH v. 15.7.1964 - Rs. 6/64 (Costa/ENEL), Slg. 1964, 1251 (1269 ff.); so auch BVerfGE 22,293 (296); 37,271 (277 f.)

23 Anders noch BVerfGE 22, 293 (296); 31, 145 (173 f.); 37, 271 (277); das Maastricht-Urteil bleibt mit der Formulierung BVerfGE 89, 155 (175) "... Akte einer besonderen, von der Staatsgewalt der Mitgliedstaaten geschiedenen öffentlichen Gewalt einer supranationalen Organisation ..." sibyllinisch.

24 So bereits BVerfGE 45, 142 (169); 52, 187 (199); 73, 339 (367 f., 375).

25 Zur Problematik einer multi-ethnischen Immigrationsgesellschaft, Zeitschrift für Ethnologie 115 (1990), S. 261 ff., 264; Ist der Mensch paradiesfähig?, in: Berliner Debatte INITIAL 8/1992, S. 13; Deutschlands Zukunft: Nationalstaat oder multikulturelle Gesellschaft?, in: D. Keller (Hrsg.), Nachdenken über Deutschland, 1991, S. 49.

26 K. A. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 584 ff., auch S. 1194 ff.; vgl. auch J. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 643 ff.

27 Dazu A. Emmerich-Fritsche, Wie verbindlich sind die Konvergenzkriterien?, EWS 1996, 77 ff.; K. A. Schachtschneider / dies., Grundgesetzliche Rechtsprobleme der Europäischen Währungsunion, DSWR 7 (1997), 172 ff.

28 Dazu J. C. K. Ringler, Die europäische Sozialunion, 1997.

29 H. Tietmeyer, Probleme einer europäischen Währungsunion und Notenbank, in: J. Isensee (Hrsg.), Europa als politische Idee und als rechtliche Form, 1994, S. 45, 53 ff.; klar W. Hankel, Europas Währungsunion kommt zu früh, in: M. Brunner (Hrsg.), Kartenhaus Europa?, 1993, S. 69 ff.; vgl. i.d.S. auch als nicht-rechtliche Erwartung BVerfGE 89, 155 (206 f.).

30 K. A. Schachtschneider / A. Emmerich-Fritsche / Th. C. W. Beyer, JZ 1993, 751 (753 f.); auch K. A. Schachtschneider, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 28/93, S. 3 (10); w. Nachw. Th. C. W. Beyer, Der Staat 35 (1996), S. 189 (208 in Fn. 125).

31 Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag, S. 72 ff.

32 Leviathan, S. 155 ff., 189 ff.