Dr. Dr. Joachim Kahl (Marburg)

Kein islamischer Religionsunterricht

an staatlichen Schulen in Deutschland

aus: Aufklärung und Kritik 1/2000 (S. 16 ff.)


Die Frage nach einem islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Deutschland ist nur scheinbar eine schulpolitische Spezialfrage. In Wahrheit handelt es sich um eine Frage von allgemeiner Bedeutung, in der viele Fragen des demokratischen Selbstverständnisses unserer Gesellschaft berührt werden.

Welche Aufgaben haben Schule und Staat im Unterschied zu Familie und Religionsgemeinschaften? Was ist Sinn und Funktion von Religion? Wie ist das Verhältnis von Staat und Religion/Religionen demokratisch zu gestalten?

Was ist aus der europäischen Geschichte für die Leitidee der Toleranz zu lernen? Hier besteht Diskussionsbedarf, ein Reformstau hat sich gebildet.

Die scheinbar großzügige und tolerante Position "Islamischer Religionsunterricht – ja bitte!" führt freilich in die Irre. Sie würde eine weitere Aufsplitterung und falsche Gruppenbildung in der Schule befördern. Neben dem evangelischen Religionsunterricht, dem katholischen Religionsunterricht, dem jüdischen Religionsunterricht und dem Ersatzfach "Ethik" für die "Gottlosen" nun auch noch islamischer Religionsunterricht. Andere Religionsgemeinschaften werden bald ihre Ansprüche erheben.

Mein Vorschlag lautet anders. Orientiert am Modell eines laizistischen Gemeinwesens mit einer strikten Trennung von Staat und Religion und belehrt durch die höchst ambivalenten Erfahrungen mit Globalisierung, Individualisierung und Pluralisierung unserer Lebensvollzüge schlage ich vor:

Ein verbindliches Pflichtfach für alle.
Islam für alle.
Christentum für alle.
Judentum für alle.
Buddhismus für alle.
Religionskritik und Ideologiekritik für alle.
Humanismus für alle.

Das heißt: ein Fach Religions- und Weltanschauungskunde für alle, ein Fach ohne konfessionellen und ohne konfessorischen Charakter. Ein Fach für alle, weil Islam, Christentum usw. zu wichtig sind, als daß sich nur die jeweils Gläubigen darin auskennen sollten.

Ich unterscheide also genau zwischen den Aufgaben einer staatlichen Pflichtschule und den Aufgaben des Elternhauses.

Laizistisches Leitbild eines demokratischen und säkularen Rechtsstaates

Der Staat soll die Heimstatt für alle Bürgerinnen und Bürger sein unabhängig von ihrem Glauben oder Unglauben, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religion oder Weltanschauung. Der Staat soll sein ein religiös und weltanschaulich neutraler Staat, Plattform und Rahmen friedlichen Zusammenlebens von Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen über Gott und die Welt.

Dies ist dann am ehesten möglich, wenn Staat und Religion konsequent getrennt sind. Die Trennung von Staat und Religion bedeutet – länder- und traditionsspezifisch:

– Trennung von Staat und Kirche.
– Trennung von Staat und Synagoge.
– Trennung von Staat und Moschee.
– Trennung von Staat und Tempel.
– Trennung von Staat und Pagode.
– Trennung von Staat und Partei/Parteien.

Die Trennung von Staat und Partei/Parteien ist eigens zu betonen, weil im zwanzigsten Jahrhundert wiederholt Parteien als totalitäre Träger politischer Religionen aufgetreten sind.

Nur der säkulare Verfassungsstaat, der die Gewalten teilt und sich klug aus den Streitfragen von Religion und Weltanschauung heraushält, sichert die elementaren geistigen Freiheiten: Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit, Gedankenfreiheit, Religionsfreiheit, Weltanschauungsfreiheit.

Die staatliche und die religiöse Sphäre entkoppelt zu haben, ist eine große historische Errungenschaft der europäischen Zivilisation. Das Prinzip der staatlichen Nichteinmischung in Fragen von Religion und Weltanschauung ist eine entscheidende Lehre, gezogen aus den blutigen Erfahrungen der Religionskriege, der Inquisition, des Hexenwahns. Es fördert den inneren Frieden eines Landes und dient der allgemeinen Wohlfahrt, wenn der Staat nach diesem Prinzip der Nichtidentifikation mit Religion und Weltanschauung organisiert ist.

1995 hat das Bundesverfassungsgericht diese Einsichten prinzipiell bekräftigt, freilich nicht konsequent genug ("Kruzifix-Beschluß"). Danach hat der demokratische Rechtsstaat keine eigene Kompetenz, kein eigenes Mandat, Religion und Weltanschauung seiner Bürger zu bewerten. Seine Aufgabe besteht lediglich, aber unverzichtbar darin, die Chancengleichheit von Religion und Nichtreligion, von Religionen und Weltanschauungen zu wahren.

Seine Legitimation empfängt der demokratische Rechtsstaat nicht von Gottes Gnaden, sondern aus der Souveränität des Volkes. Formelhaft gesagt:

– Säkularer Staat statt Gottesstaat!
– Demokratie statt Theokratie!

Für den Erziehungsauftrag des staatlichen Schulwesens bedeutet dies: die religiös-weltanschauliche Erziehung ist keine Staatsaufgabe, sondern eine ureigene Aufgabe der Eltern, die sich dabei, wenn sie es wollen, auf die Hilfen von religiösen Gemeinden und weltanschaulicher Verbände stützen können.

Damit soll Religion freilich nicht schlechthin aus der Schule verbannt sein. Religion gehört in die Schule – notwendig und sinnvoll als Unterrichtsstoff, lehrbar und lernbar. Aber: nicht als Subjekt der Selbstdarstellung, sondern als Objekt der Darstellung.

Was ist die Aufgabe des staatlichen Schulwesens? Die Schule ist Lebensraum und Lernort für die heranwachsende Generation. Dort soll nicht nur abfragbares Wissen vermittelt, sondern auch ein wesentlicher Beitrag geleistet werden zur Bildung und Erziehung lebenstüchtiger Menschen, die sich den humanistisch-demokratischen Wertekanon des Grundgesetzes zu eigen machen.

Insofern umfaßt der Bildungsauftrag der Schule viele Bereiche. Die junge Generation soll erzogen und gebildet werden:

– intellektuell und körperlich,
– musisch und ästhetisch,
– sozial und politisch,
– sexuell und kulturell,
– ethisch und spirituell.

Die Neutralität des säkularen Staates in Fragen von Religion und Weltanschauung bedeutet keinen Verzicht auf eine verpflichtende Ordnung von gemeinsamen Grundwerten. Dazu gehören beispielsweise: gleiche Würde und Freiheit, Recht auf Leben und Eigentum, Gemeinwohlorientierung, demokratische Teilhabe. Insofern gehören ethische Normen und Fragestellungen unverzichtbar in den Schulunterricht.

Was ist spirituelle Bildung, die manche hier wohl verblüffen mag? Spirituelle Bildung ist keine religiöse Bildung, die – als Erziehung hin zu (einer bestimmten) Religion – der staatlichen Schule verwehrt ist. Spiritualität ist jener Bereich von Innerlichkeit, in dem wir nach Sinn und Zweck, Halt und Ordnung unseres Lebens fragen. Spiritualität ist jener Gemütsbereich, in dem wir – Gefühl und Verstand übergreifend – der Sinnhaftigkeit und Gewissenhaftigkeit unseres Tuns und Lassens nachspüren. Wie bei allen menschlichen Lebensäußerungen ist auch hier eine religiöse und eine nicht-religiöse, weltliche Spielart denkbar.

Ethik und Spiritualität sind wesentliche Gesichtspunkte des von mir vorgeschlagenen Faches "Religions- und Weltanschauungskunde".

Über die Vereinbarkeit von Staatsschule und Religionsfreiheit der dort Lehrenden und Lernenden

Die jetzige Regelung ist ausgesprochen unzulänglich und reformbedürftig. Die Existenz eines schulischen Religionsunterrichtes, der "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt wird" (Grundgesetz Artikel 7, Absatz 3), ist eine legalisierte Ausnahme vom laizistischen Trennungsprinzip, das aus der Weimarer Reichsverfassung (Artikel 137, Absatz 1) ins Grundgesetz übernommen wurde: "Es besteht keine Staatskirche" (Artikel 140 Grundgesetz).

Als vordemokratisches Relikt aus der konstantinischen Epoche der Einheit von Thron und Altar hat der Religionsunterricht allerdings zwei wesentliche rechtsstaatliche Korrekturen erfahren, die aus den Menschenrechten auf Gewissens- und Religionsfreiheit erwachsen. Zwar ist der Religionsunterricht "ordentliches Lehrfach", er muß in der Stundentafel der Schule angeboten werden. Andererseits hat dieses Fach aber zwei ungewöhnliche Besonderheiten:

1) Kein Lehrer darf gezwungen werden, ihn zu unterrichten.
2) Kein Schüler kann (staatlicherseits) gezwungen werden, an ihm teilzunehmen.

Bis zum Alter von 14 entscheiden die Eltern darüber, ab 14 entscheidet der Schüler, die Schülerin eigenständig.

Diese Freiwilligkeit ergibt sich aus dem Gewissensvorbehalt aller Beteiligten, weil der Inhalt ja erklärtermaßen konfessionell und konfessorisch zu sein hat. Die Besonderheit – Pflichtfach für den Lehrplan der Schule, doch niemand kann und darf gezwungen werden, daran teilzunehmen – unterscheidet den Religionsunterricht von allen wirklichen Pflichtfächern, etwa Deutsch, Mathematik, Physik.

Es könnte durchaus in absehbarer Zeit die groteske Situation eintreten, daß weder Schüler noch Lehrer am "ordentlichen Lehrfach" Religion teilnehmen. Vor dreißig Jahren wurde in dieser Hinsicht als Auffangbecken für die "Gottlosen" das Fach "Ethik" eingerichtet. Sein strukturelles Problem besteht darin: wenn der Religionsunterricht freiwillig ist, kann auch das Ersatzfach nur freiwillig sein.

Um die jetzige unbefriedigende Lage zu beschönigen und die eigene Legitimationsbasis zu verbreitern, treten die evangelische und katholische Kirche heute für einen islamischen Religionsunterricht ein.

Die bessere Lösung

Die bessere Lösung ist ein obligatorisches Fach "Religions- und Weltanschauungskunde": ein Fach für alle, ohne Möglichkeit sich abzumelden, weil keine persönlichen Glaubens- oder Gewissensfragen berührt werden. Das Fach setzt die klare Unterscheidung zwischen den Aufgaben einer staatlichen Schule und den Aufgaben des Elternhauses voraus, das sich der Erziehungshilfe einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft bedienen kann.

Der Inhalt des Faches – Vermittlung von Grundwissen über alle Weltreligionen und alle wichtigen Weltanschauungen – ist alters- und schulstufenbezogen zu konkretisieren und zu differenzieren. Angestrebt ist eine klare, saubere, ehrliche, demokratische Lösung, die institutionell und personell, organisatorisch und inhaltlich verwirklicht werden muß.

Niemand soll heimlich oder offen für etwas vereinnahmt werden. Niemand soll ausgegrenzt werden oder wird tatsächlich ausgegrenzt. Niemand soll missioniert oder bevormundet werden. Niemand muß sich verleugnen oder verstecken. Niemand muß seine Identität preisgeben, niemandem wird eine Identität übergestülpt. Keine Konfession, keine Denomination, keine Organisation wird bevorzugt oder benachteiligt. Vor allem finden sich auch jene wieder, die keiner Konfession, Denomination, Organisation angehören. Und diese Gruppe wird rasch wachsen! Das Fach orientiert sich nicht an Mehrheiten oder Minderheiten.

Weder fördert es eine Ghettoisierung noch eine Supermarktmentalität. Im Gegenteil: es ist die konstruktive Antwort auf beide gesellschaftlichen Gefahren. Es trägt der geistigen Unübersichtlichkeit und den religiösen Traditionsverlusten Rechnung. Darin ist es realistisch und überholt die Hamburger Vorschläge eines bikonfessionellen christlichen Religionsunterrichtes ("für alle") oder das sogenannte "abrahamitische" Modell, das alle drei monotheistischen Religionen in einem Fach zusammenfassen möchte.

Von seiner Anlage her fördert das Fach Integration statt Segregation, Toleranz statt Ignoranz. Durch grundlegende Information über Religionen und Weltanschauungen dient es der Religions- und Weltanschauungsmündigkeit der Schüler.

Hier ist der jugendgemäße Lernort für interreligiösen und interkulturellen Dialog, der heute – zu Recht – vielfach gefordert wird. Seine pädagogischen Prinzipien, die Form und Inhalt durchdringen sind:

– wechselseitiger Respekt,
– wechselseitige Kritik,
– Verbindung von Fairneß und Konfrontation,
– Einüben von Dialog- und Konfliktfähigkeit,
– Vermeiden von Einseitigkeiten und Schwarz-Weiß-Schemata.

Für die Lehrperson ist die pädagogische Aufgabe gewiß nicht leicht, aber sie ist lösbar. Sie stellt sich prinzipiell nicht viel anders dar als in jenen Fächern, in denen ebenfalls konkurrierende Auffassungen behandelt werden, etwa in Deutsch, Geschichte, Sozialkunde. Es gilt, ein lernbereites und diskussionsfreudiges Unterrichtsklima zu entfalten und dabei das Diskriminierungsverbot sowie das Privilegierungsverbot zu beachten.

Zu einer historisch und kulturell, ethisch und spirituell gebildeten Persönlichkeit gehört religions- und weltanschauungskundliches Grundwissen. Die neutestamentliche Bergpredigt, ein Hauptdokument des Christentums, nicht zu kennen, ist skandalös. Ebenso unerträglich freilich auch die Ignoranz über die fünf Säulen des Islam. Nicht weniger sollte ein gebildeter Mensch wissen, warum Atheisten keine heiligen Bücher, keine heiligen Städte, kein heiliges Land, keinen heiligen Vater auf einem heiligen Stuhl und erst recht keinen heiligen Krieg kennen: kurz, warum ihnen überhaupt nichts heilig ist und welchen unfrivolen Sinn das hat.

Als ethischer und spiritueller Leitfaden des Faches kann die Frage nach einem guten und sinnvollen Leben dienen. Welche Antworten und Vorschläge haben dafür die alten und die neuen Religionen, die alten und neuen nichtreligiösen Weltanschauungen bereit? Das Unterrichtsgespräch über Lebensführung und Lebensziele soll die Schülerinnen und Schüler befähigen, eine eigenständige, individuell verankerte Antwort zu finden und so religionsmündig und weltanschauungsmündig zu werden.

Eine abschließende Bemerkung zur Bezeichnung des Faches als Religions- und Weltanschauungskunde: Eine Kunde ist nichts Zweitrangiges oder Zweitklassiges, wie manche Kritiker herablassend meinen. Seit alters her kennt der Schulunterricht Erdkunde, Naturkunde, Sachkunde. An den Universitäten sind Disziplinen wie Völkerkunde, Kinder- und Frauenheilkunde fest wissenschaftlich verankert.

Zum hochgespielten Problem einer fairen und möglichst objektiven Darstellung von Positionen, die die Lehrperson nicht teilt, sei zu bedenken gegeben:

– Im Fach Erdkunde werden Grundkenntnisse über die fünf Erdteile vermittelt. Wollte jemand verlangen, Australien dürfe nur von Australiern, Afrika nur von Afrikanern unterrichtet werden?

– Im Fach Geschichte werden Grundinformationen über längst vergangene Epochen gegeben. Darf über amerikanische Negersklaverei, über asiatische Kolonialreiche, über deutschen Faschismus nur berichten und urteilen, wer selber dabei war – als Täter, Opfer oder Zeitzeuge?

– Soll im Fach Philosophie an der Universität Kant nur von Kantianern, Heidegger nur von Heideggerianern gelehrt werden?

Gerade ein fremder, vielleicht kritischer Blick kann Wesentliches erfassen. Seine mögliche Korrektur erfährt er im Gespräch mit "authentischen Repräsentanten" von Religionen und Weltanschauungen, die in den Unterricht eingeladen werden können.

Religions- und Gewissensfreiheit auch für Kinder und Jugendliche

Ich wende mich entschieden gegen die gängige, aber gedankenlose Formulierung: für christliche Kinder soll ein christlicher Religionsunterricht, für muslimische Kinder ein muslimischer Religionsunterricht angeboten werden. Damit wird eine illusionäre Charakteristik der Schülerklientel gegeben. Gewiß gibt es Kinder aus christlichen oder muslimischen Elternhäusern. Aber darf umstandslos die Religion der Eltern auch den Kindern zugerechnet werden? Hier klafft eine Ehrlichkeitslücke, zumindest besteht hier Klärungsbedarf.

Angelehnt an die Grundideen von Gotthold Ephraim Lessings Schauspiel "Nathan der Weise" und diese radikalisierend, stelle ich fest:

Niemand wird als Christ geboren.
Niemand wird als Muslim geboren.
Niemand wird als Hindu geboren.
Niemand wird als Atheist geboren.

Wir alle werden als Menschen geboren, religionslos, weltanschauungslos, bildungslos, bindungslos. Dann erst werden wir zu Christen, Muslimen, Hindus, Atheisten gemacht. Zu religiösen Menschen werden wir bekehrt, beschnitten, getauft, initiiert. Zu nichtreligiösen Menschen werden wir erzogen.

Auch Kinder haben ein Menschenrecht auf Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit, Weltanschauungsfreiheit – unveräußerlich, unverletzlich. Kinder sind eigene Menschenrechtssubjekte, Menschenrechtsträger, auch ihren Eltern gegenüber.

Natürlich gibt es das Erziehungsrecht der Eltern, ja die Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen. Bei religiösen Eltern schließt dies unvermeidlicherweise und legitimerweise auch eine religiöse Erziehung mit ein, etwa Gebete bei Tisch oder am Bett oder die gemeinsame Lektüre heiliger Schriften. Aber auch religiöse Eltern müssen die Menschenrechte ihrer Kinder respektieren, und zwar vor allem das Recht auf Religionsfreiheit in seinem Negativaspekt der Gewaltfreiheit.

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland lautet es so: "Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden." (Art. 140, dem Art. 136, Abs. 4 der Weimarer Reichsverfassung inkorporiert ist).

Eltern sollen ihre natürliche Überlegenheit, ihre geistige Machtposition gegenüber ihren Kindern nicht ausnutzen. Das Überwältigungsverbot gilt hier besonders. Das heißt: ich sehe keine ethische und keine juristische Grundlage dafür, daß Eltern ihre eigene Mitgliedschaft in einer Religion oder ihre Zugehörigkeit zu einer Weltanschauung ihren Kindern gleichsam überstülpen. Zur Religionsfreiheit von Kindern und Jugendliche gehört deren körperliche und organisatorische Unversehrtheit. Das heißt: ich sehe keine ethische und juristische Legitimation für eine Säuglingstaufe oder für eine Beschneidung von Knaben und Mädchen.

Diese Initiationsriten eröffnen eine Zwangsmitgliedschaft in einer Religion und sind daher in Deutschland verfassungswidrig. Zur Religionsfreiheit gehört das Prinzip der strikten Freiwilligkeit von Eintritt und Austritt – ohne Furcht vor Nachteilen.

Der heute oft gehörte Satz von Eltern "Mein Kind soll sich einmal selber entscheiden" ist eine leere Phrase, wenn er mit Säuglingstaufe oder Beschneidung verbunden ist. Er ist eine demokratische Leitidee, wenn Eltern auf eine Zwangsmitgliedschaft ihrer Kinder in Kirche, Synagoge, Moschee, Tempel, Verband, Partei verzichten.

Unter diesen Voraussetzungen erhält das von mir vorgeschlagene Fach "Religions- und Weltanschauungskunde" seine strategische Bedeutung. Ihm fällt eine Schlüsselrolle zu bei der geistigen Selbstbestimmung und Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen.

Sie sind zwar noch nicht religions- und weltanschauungsmündig, aber doch eigene Menschenrechtssubjekte. Aus ihrem Elternhaus bringen sie – legitimerweise – einen christlichen, jüdischen, muslimischen oder religionskritischen Hintergrund ("Stallgeruch") mit. Aber sie werden nicht länger für die Auffassungen ihrer Eltern vereinnahmt.

Der schulische Unterricht "Religions- und Weltanschauungskunde" ermöglicht ihnen, geistig nicht an den Zufällen ihrer Herkunft haften zu bleiben, sondern – wohlinformiert und lange genug reflektiert – diejenige Religion oder Weltanschauung zu wählen, die sie überzeugt.

Überarbeitete Fassung eines Vortrages, der im Herbst 1999 vor der Thomas-Dehler-Stiftung in Nürnberg und an der Universität Göttingen (Einladung aus dem pädagogischen Seminar) gehalten wurde.



Im Internet finden Sie die Homepage von Joachim Kahl unter www.kahl-marburg.de


A&K Dr. Kahl: Islam-Unterricht


Dr. Dr. Joachim Kahl (Marburg)

Kein islamischer Religionsunterricht

an staatlichen Schulen in Deutschland

aus: Aufklärung und Kritik 1/2000 (S. 16 ff.)


Die Frage nach einem islamischen Religionsunterricht an öffentlichen Schulen in Deutschland ist nur scheinbar eine schulpolitische Spezialfrage. In Wahrheit handelt es sich um eine Frage von allgemeiner Bedeutung, in der viele Fragen des demokratischen Selbstverständnisses unserer Gesellschaft berührt werden.

Welche Aufgaben haben Schule und Staat im Unterschied zu Familie und Religionsgemeinschaften? Was ist Sinn und Funktion von Religion? Wie ist das Verhältnis von Staat und Religion/Religionen demokratisch zu gestalten?

Was ist aus der europäischen Geschichte für die Leitidee der Toleranz zu lernen? Hier besteht Diskussionsbedarf, ein Reformstau hat sich gebildet.

Die scheinbar großzügige und tolerante Position "Islamischer Religionsunterricht – ja bitte!" führt freilich in die Irre. Sie würde eine weitere Aufsplitterung und falsche Gruppenbildung in der Schule befördern. Neben dem evangelischen Religionsunterricht, dem katholischen Religionsunterricht, dem jüdischen Religionsunterricht und dem Ersatzfach "Ethik" für die "Gottlosen" nun auch noch islamischer Religionsunterricht. Andere Religionsgemeinschaften werden bald ihre Ansprüche erheben.

Mein Vorschlag lautet anders. Orientiert am Modell eines laizistischen Gemeinwesens mit einer strikten Trennung von Staat und Religion und belehrt durch die höchst ambivalenten Erfahrungen mit Globalisierung, Individualisierung und Pluralisierung unserer Lebensvollzüge schlage ich vor:

Ein verbindliches Pflichtfach für alle.
Islam für alle.
Christentum für alle.
Judentum für alle.
Buddhismus für alle.
Religionskritik und Ideologiekritik für alle.
Humanismus für alle.

Das heißt: ein Fach Religions- und Weltanschauungskunde für alle, ein Fach ohne konfessionellen und ohne konfessorischen Charakter. Ein Fach für alle, weil Islam, Christentum usw. zu wichtig sind, als daß sich nur die jeweils Gläubigen darin auskennen sollten.

Ich unterscheide also genau zwischen den Aufgaben einer staatlichen Pflichtschule und den Aufgaben des Elternhauses.

Laizistisches Leitbild eines demokratischen und säkularen Rechtsstaates

Der Staat soll die Heimstatt für alle Bürgerinnen und Bürger sein unabhängig von ihrem Glauben oder Unglauben, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu einer Religion oder Weltanschauung. Der Staat soll sein ein religiös und weltanschaulich neutraler Staat, Plattform und Rahmen friedlichen Zusammenlebens von Menschen mit unterschiedlichen Auffassungen über Gott und die Welt.

Dies ist dann am ehesten möglich, wenn Staat und Religion konsequent getrennt sind. Die Trennung von Staat und Religion bedeutet – länder- und traditionsspezifisch:

– Trennung von Staat und Kirche.
– Trennung von Staat und Synagoge.
– Trennung von Staat und Moschee.
– Trennung von Staat und Tempel.
– Trennung von Staat und Pagode.
– Trennung von Staat und Partei/Parteien.

Die Trennung von Staat und Partei/Parteien ist eigens zu betonen, weil im zwanzigsten Jahrhundert wiederholt Parteien als totalitäre Träger politischer Religionen aufgetreten sind.

Nur der säkulare Verfassungsstaat, der die Gewalten teilt und sich klug aus den Streitfragen von Religion und Weltanschauung heraushält, sichert die elementaren geistigen Freiheiten: Glaubensfreiheit, Gewissensfreiheit, Gedankenfreiheit, Religionsfreiheit, Weltanschauungsfreiheit.

Die staatliche und die religiöse Sphäre entkoppelt zu haben, ist eine große historische Errungenschaft der europäischen Zivilisation. Das Prinzip der staatlichen Nichteinmischung in Fragen von Religion und Weltanschauung ist eine entscheidende Lehre, gezogen aus den blutigen Erfahrungen der Religionskriege, der Inquisition, des Hexenwahns. Es fördert den inneren Frieden eines Landes und dient der allgemeinen Wohlfahrt, wenn der Staat nach diesem Prinzip der Nichtidentifikation mit Religion und Weltanschauung organisiert ist.

1995 hat das Bundesverfassungsgericht diese Einsichten prinzipiell bekräftigt, freilich nicht konsequent genug ("Kruzifix-Beschluß"). Danach hat der demokratische Rechtsstaat keine eigene Kompetenz, kein eigenes Mandat, Religion und Weltanschauung seiner Bürger zu bewerten. Seine Aufgabe besteht lediglich, aber unverzichtbar darin, die Chancengleichheit von Religion und Nichtreligion, von Religionen und Weltanschauungen zu wahren.

Seine Legitimation empfängt der demokratische Rechtsstaat nicht von Gottes Gnaden, sondern aus der Souveränität des Volkes. Formelhaft gesagt:

– Säkularer Staat statt Gottesstaat!
– Demokratie statt Theokratie!

Für den Erziehungsauftrag des staatlichen Schulwesens bedeutet dies: die religiös-weltanschauliche Erziehung ist keine Staatsaufgabe, sondern eine ureigene Aufgabe der Eltern, die sich dabei, wenn sie es wollen, auf die Hilfen von religiösen Gemeinden und weltanschaulicher Verbände stützen können.

Damit soll Religion freilich nicht schlechthin aus der Schule verbannt sein. Religion gehört in die Schule – notwendig und sinnvoll als Unterrichtsstoff, lehrbar und lernbar. Aber: nicht als Subjekt der Selbstdarstellung, sondern als Objekt der Darstellung.

Was ist die Aufgabe des staatlichen Schulwesens? Die Schule ist Lebensraum und Lernort für die heranwachsende Generation. Dort soll nicht nur abfragbares Wissen vermittelt, sondern auch ein wesentlicher Beitrag geleistet werden zur Bildung und Erziehung lebenstüchtiger Menschen, die sich den humanistisch-demokratischen Wertekanon des Grundgesetzes zu eigen machen.

Insofern umfaßt der Bildungsauftrag der Schule viele Bereiche. Die junge Generation soll erzogen und gebildet werden:

– intellektuell und körperlich,
– musisch und ästhetisch,
– sozial und politisch,
– sexuell und kulturell,
– ethisch und spirituell.

Die Neutralität des säkularen Staates in Fragen von Religion und Weltanschauung bedeutet keinen Verzicht auf eine verpflichtende Ordnung von gemeinsamen Grundwerten. Dazu gehören beispielsweise: gleiche Würde und Freiheit, Recht auf Leben und Eigentum, Gemeinwohlorientierung, demokratische Teilhabe. Insofern gehören ethische Normen und Fragestellungen unverzichtbar in den Schulunterricht.

Was ist spirituelle Bildung, die manche hier wohl verblüffen mag? Spirituelle Bildung ist keine religiöse Bildung, die – als Erziehung hin zu (einer bestimmten) Religion – der staatlichen Schule verwehrt ist. Spiritualität ist jener Bereich von Innerlichkeit, in dem wir nach Sinn und Zweck, Halt und Ordnung unseres Lebens fragen. Spiritualität ist jener Gemütsbereich, in dem wir – Gefühl und Verstand übergreifend – der Sinnhaftigkeit und Gewissenhaftigkeit unseres Tuns und Lassens nachspüren. Wie bei allen menschlichen Lebensäußerungen ist auch hier eine religiöse und eine nicht-religiöse, weltliche Spielart denkbar.

Ethik und Spiritualität sind wesentliche Gesichtspunkte des von mir vorgeschlagenen Faches "Religions- und Weltanschauungskunde".

Über die Vereinbarkeit von Staatsschule und Religionsfreiheit der dort Lehrenden und Lernenden

Die jetzige Regelung ist ausgesprochen unzulänglich und reformbedürftig. Die Existenz eines schulischen Religionsunterrichtes, der "in Übereinstimmung mit den Grundsätzen der Religionsgemeinschaften erteilt wird" (Grundgesetz Artikel 7, Absatz 3), ist eine legalisierte Ausnahme vom laizistischen Trennungsprinzip, das aus der Weimarer Reichsverfassung (Artikel 137, Absatz 1) ins Grundgesetz übernommen wurde: "Es besteht keine Staatskirche" (Artikel 140 Grundgesetz).

Als vordemokratisches Relikt aus der konstantinischen Epoche der Einheit von Thron und Altar hat der Religionsunterricht allerdings zwei wesentliche rechtsstaatliche Korrekturen erfahren, die aus den Menschenrechten auf Gewissens- und Religionsfreiheit erwachsen. Zwar ist der Religionsunterricht "ordentliches Lehrfach", er muß in der Stundentafel der Schule angeboten werden. Andererseits hat dieses Fach aber zwei ungewöhnliche Besonderheiten:

1) Kein Lehrer darf gezwungen werden, ihn zu unterrichten.
2) Kein Schüler kann (staatlicherseits) gezwungen werden, an ihm teilzunehmen.

Bis zum Alter von 14 entscheiden die Eltern darüber, ab 14 entscheidet der Schüler, die Schülerin eigenständig.

Diese Freiwilligkeit ergibt sich aus dem Gewissensvorbehalt aller Beteiligten, weil der Inhalt ja erklärtermaßen konfessionell und konfessorisch zu sein hat. Die Besonderheit – Pflichtfach für den Lehrplan der Schule, doch niemand kann und darf gezwungen werden, daran teilzunehmen – unterscheidet den Religionsunterricht von allen wirklichen Pflichtfächern, etwa Deutsch, Mathematik, Physik.

Es könnte durchaus in absehbarer Zeit die groteske Situation eintreten, daß weder Schüler noch Lehrer am "ordentlichen Lehrfach" Religion teilnehmen. Vor dreißig Jahren wurde in dieser Hinsicht als Auffangbecken für die "Gottlosen" das Fach "Ethik" eingerichtet. Sein strukturelles Problem besteht darin: wenn der Religionsunterricht freiwillig ist, kann auch das Ersatzfach nur freiwillig sein.

Um die jetzige unbefriedigende Lage zu beschönigen und die eigene Legitimationsbasis zu verbreitern, treten die evangelische und katholische Kirche heute für einen islamischen Religionsunterricht ein.

Die bessere Lösung

Die bessere Lösung ist ein obligatorisches Fach "Religions- und Weltanschauungskunde": ein Fach für alle, ohne Möglichkeit sich abzumelden, weil keine persönlichen Glaubens- oder Gewissensfragen berührt werden. Das Fach setzt die klare Unterscheidung zwischen den Aufgaben einer staatlichen Schule und den Aufgaben des Elternhauses voraus, das sich der Erziehungshilfe einer Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft bedienen kann.

Der Inhalt des Faches – Vermittlung von Grundwissen über alle Weltreligionen und alle wichtigen Weltanschauungen – ist alters- und schulstufenbezogen zu konkretisieren und zu differenzieren. Angestrebt ist eine klare, saubere, ehrliche, demokratische Lösung, die institutionell und personell, organisatorisch und inhaltlich verwirklicht werden muß.

Niemand soll heimlich oder offen für etwas vereinnahmt werden. Niemand soll ausgegrenzt werden oder wird tatsächlich ausgegrenzt. Niemand soll missioniert oder bevormundet werden. Niemand muß sich verleugnen oder verstecken. Niemand muß seine Identität preisgeben, niemandem wird eine Identität übergestülpt. Keine Konfession, keine Denomination, keine Organisation wird bevorzugt oder benachteiligt. Vor allem finden sich auch jene wieder, die keiner Konfession, Denomination, Organisation angehören. Und diese Gruppe wird rasch wachsen! Das Fach orientiert sich nicht an Mehrheiten oder Minderheiten.

Weder fördert es eine Ghettoisierung noch eine Supermarktmentalität. Im Gegenteil: es ist die konstruktive Antwort auf beide gesellschaftlichen Gefahren. Es trägt der geistigen Unübersichtlichkeit und den religiösen Traditionsverlusten Rechnung. Darin ist es realistisch und überholt die Hamburger Vorschläge eines bikonfessionellen christlichen Religionsunterrichtes ("für alle") oder das sogenannte "abrahamitische" Modell, das alle drei monotheistischen Religionen in einem Fach zusammenfassen möchte.

Von seiner Anlage her fördert das Fach Integration statt Segregation, Toleranz statt Ignoranz. Durch grundlegende Information über Religionen und Weltanschauungen dient es der Religions- und Weltanschauungsmündigkeit der Schüler.

Hier ist der jugendgemäße Lernort für interreligiösen und interkulturellen Dialog, der heute – zu Recht – vielfach gefordert wird. Seine pädagogischen Prinzipien, die Form und Inhalt durchdringen sind:

– wechselseitiger Respekt,
– wechselseitige Kritik,
– Verbindung von Fairneß und Konfrontation,
– Einüben von Dialog- und Konfliktfähigkeit,
– Vermeiden von Einseitigkeiten und Schwarz-Weiß-Schemata.

Für die Lehrperson ist die pädagogische Aufgabe gewiß nicht leicht, aber sie ist lösbar. Sie stellt sich prinzipiell nicht viel anders dar als in jenen Fächern, in denen ebenfalls konkurrierende Auffassungen behandelt werden, etwa in Deutsch, Geschichte, Sozialkunde. Es gilt, ein lernbereites und diskussionsfreudiges Unterrichtsklima zu entfalten und dabei das Diskriminierungsverbot sowie das Privilegierungsverbot zu beachten.

Zu einer historisch und kulturell, ethisch und spirituell gebildeten Persönlichkeit gehört religions- und weltanschauungskundliches Grundwissen. Die neutestamentliche Bergpredigt, ein Hauptdokument des Christentums, nicht zu kennen, ist skandalös. Ebenso unerträglich freilich auch die Ignoranz über die fünf Säulen des Islam. Nicht weniger sollte ein gebildeter Mensch wissen, warum Atheisten keine heiligen Bücher, keine heiligen Städte, kein heiliges Land, keinen heiligen Vater auf einem heiligen Stuhl und erst recht keinen heiligen Krieg kennen: kurz, warum ihnen überhaupt nichts heilig ist und welchen unfrivolen Sinn das hat.

Als ethischer und spiritueller Leitfaden des Faches kann die Frage nach einem guten und sinnvollen Leben dienen. Welche Antworten und Vorschläge haben dafür die alten und die neuen Religionen, die alten und neuen nichtreligiösen Weltanschauungen bereit? Das Unterrichtsgespräch über Lebensführung und Lebensziele soll die Schülerinnen und Schüler befähigen, eine eigenständige, individuell verankerte Antwort zu finden und so religionsmündig und weltanschauungsmündig zu werden.

Eine abschließende Bemerkung zur Bezeichnung des Faches als Religions- und Weltanschauungskunde: Eine Kunde ist nichts Zweitrangiges oder Zweitklassiges, wie manche Kritiker herablassend meinen. Seit alters her kennt der Schulunterricht Erdkunde, Naturkunde, Sachkunde. An den Universitäten sind Disziplinen wie Völkerkunde, Kinder- und Frauenheilkunde fest wissenschaftlich verankert.

Zum hochgespielten Problem einer fairen und möglichst objektiven Darstellung von Positionen, die die Lehrperson nicht teilt, sei zu bedenken gegeben:

– Im Fach Erdkunde werden Grundkenntnisse über die fünf Erdteile vermittelt. Wollte jemand verlangen, Australien dürfe nur von Australiern, Afrika nur von Afrikanern unterrichtet werden?

– Im Fach Geschichte werden Grundinformationen über längst vergangene Epochen gegeben. Darf über amerikanische Negersklaverei, über asiatische Kolonialreiche, über deutschen Faschismus nur berichten und urteilen, wer selber dabei war – als Täter, Opfer oder Zeitzeuge?

– Soll im Fach Philosophie an der Universität Kant nur von Kantianern, Heidegger nur von Heideggerianern gelehrt werden?

Gerade ein fremder, vielleicht kritischer Blick kann Wesentliches erfassen. Seine mögliche Korrektur erfährt er im Gespräch mit "authentischen Repräsentanten" von Religionen und Weltanschauungen, die in den Unterricht eingeladen werden können.

Religions- und Gewissensfreiheit auch für Kinder und Jugendliche

Ich wende mich entschieden gegen die gängige, aber gedankenlose Formulierung: für christliche Kinder soll ein christlicher Religionsunterricht, für muslimische Kinder ein muslimischer Religionsunterricht angeboten werden. Damit wird eine illusionäre Charakteristik der Schülerklientel gegeben. Gewiß gibt es Kinder aus christlichen oder muslimischen Elternhäusern. Aber darf umstandslos die Religion der Eltern auch den Kindern zugerechnet werden? Hier klafft eine Ehrlichkeitslücke, zumindest besteht hier Klärungsbedarf.

Angelehnt an die Grundideen von Gotthold Ephraim Lessings Schauspiel "Nathan der Weise" und diese radikalisierend, stelle ich fest:

Niemand wird als Christ geboren.
Niemand wird als Muslim geboren.
Niemand wird als Hindu geboren.
Niemand wird als Atheist geboren.

Wir alle werden als Menschen geboren, religionslos, weltanschauungslos, bildungslos, bindungslos. Dann erst werden wir zu Christen, Muslimen, Hindus, Atheisten gemacht. Zu religiösen Menschen werden wir bekehrt, beschnitten, getauft, initiiert. Zu nichtreligiösen Menschen werden wir erzogen.

Auch Kinder haben ein Menschenrecht auf Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit, Weltanschauungsfreiheit – unveräußerlich, unverletzlich. Kinder sind eigene Menschenrechtssubjekte, Menschenrechtsträger, auch ihren Eltern gegenüber.

Natürlich gibt es das Erziehungsrecht der Eltern, ja die Pflicht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen. Bei religiösen Eltern schließt dies unvermeidlicherweise und legitimerweise auch eine religiöse Erziehung mit ein, etwa Gebete bei Tisch oder am Bett oder die gemeinsame Lektüre heiliger Schriften. Aber auch religiöse Eltern müssen die Menschenrechte ihrer Kinder respektieren, und zwar vor allem das Recht auf Religionsfreiheit in seinem Negativaspekt der Gewaltfreiheit.

Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland lautet es so: "Niemand darf zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an religiösen Übungen oder zur Benutzung einer religiösen Eidesform gezwungen werden." (Art. 140, dem Art. 136, Abs. 4 der Weimarer Reichsverfassung inkorporiert ist).

Eltern sollen ihre natürliche Überlegenheit, ihre geistige Machtposition gegenüber ihren Kindern nicht ausnutzen. Das Überwältigungsverbot gilt hier besonders. Das heißt: ich sehe keine ethische und keine juristische Grundlage dafür, daß Eltern ihre eigene Mitgliedschaft in einer Religion oder ihre Zugehörigkeit zu einer Weltanschauung ihren Kindern gleichsam überstülpen. Zur Religionsfreiheit von Kindern und Jugendliche gehört deren körperliche und organisatorische Unversehrtheit. Das heißt: ich sehe keine ethische und juristische Legitimation für eine Säuglingstaufe oder für eine Beschneidung von Knaben und Mädchen.

Diese Initiationsriten eröffnen eine Zwangsmitgliedschaft in einer Religion und sind daher in Deutschland verfassungswidrig. Zur Religionsfreiheit gehört das Prinzip der strikten Freiwilligkeit von Eintritt und Austritt – ohne Furcht vor Nachteilen.

Der heute oft gehörte Satz von Eltern "Mein Kind soll sich einmal selber entscheiden" ist eine leere Phrase, wenn er mit Säuglingstaufe oder Beschneidung verbunden ist. Er ist eine demokratische Leitidee, wenn Eltern auf eine Zwangsmitgliedschaft ihrer Kinder in Kirche, Synagoge, Moschee, Tempel, Verband, Partei verzichten.

Unter diesen Voraussetzungen erhält das von mir vorgeschlagene Fach "Religions- und Weltanschauungskunde" seine strategische Bedeutung. Ihm fällt eine Schlüsselrolle zu bei der geistigen Selbstbestimmung und Identitätsbildung von Kindern und Jugendlichen.

Sie sind zwar noch nicht religions- und weltanschauungsmündig, aber doch eigene Menschenrechtssubjekte. Aus ihrem Elternhaus bringen sie – legitimerweise – einen christlichen, jüdischen, muslimischen oder religionskritischen Hintergrund ("Stallgeruch") mit. Aber sie werden nicht länger für die Auffassungen ihrer Eltern vereinnahmt.

Der schulische Unterricht "Religions- und Weltanschauungskunde" ermöglicht ihnen, geistig nicht an den Zufällen ihrer Herkunft haften zu bleiben, sondern – wohlinformiert und lange genug reflektiert – diejenige Religion oder Weltanschauung zu wählen, die sie überzeugt.

Überarbeitete Fassung eines Vortrages, der im Herbst 1999 vor der Thomas-Dehler-Stiftung in Nürnberg und an der Universität Göttingen (Einladung aus dem pädagogischen Seminar) gehalten wurde.



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