Franz Strunz (Diesenhofen)

Voltaires Tod

aus: Aufklärung und Kritik 1/2000 (S. 116 ff.)


"Qualis vita, talis mors"

1. Der Aufbruch

Wir befinden uns am Anfang des Jahres 1778. Der Schauplatz ist das Dorf Ferney in der Nähe von Genf, jedoch auf der französischen Seite der Grenze. Voltaire hatte 1753, nach seinem Debakel in Potsdam, nach einem Domizil für sich und seine Nichte, die auch seine Geliebte war, Ausschau gehalten. Der König lehnte eine Niederlassung des Philosophen, dessen Schriften gegen die Religion ihm ein Dorn im Auge waren, in Paris ab. Voltaire wandte sich nach Süden, in Richtung Schweiz, kaufte außerhalb Genfs das Gut "Les Délices" und dann 1759 die Herrschaft Ferney. Somit war er Besitzer eines Dorfes und Lehensherr geworden. Von Ferney aus wurde er zu der geistigen Großmacht, von der Schrift um Schrift ausging, die alle begierig erwartet und aufgenommen wurden, bis das kirchliche und weltliche Feudalsystem, nicht zuletzt durch seine Mitwirkung, zu Fall kam. "Man wartete fast monatlich darauf, was aus Ferney käme, in meist unerwarteter Form und über unvoraussagbare Themen. Dieser ‘Erwartungshorizont’, den er um sich geschaffen hatte, sicherte ihm eine zu seiner Zeit und vielleicht zu allen Zeiten beispiellose Einflußmacht auf die öffentliche Meinung". (1) Durch seine Aktivität vor allem wurde die Blutjustiz übende Macht der Kirche in Europa endgültig gebrochen. "Er war eine der Kräfte, die die Welt zu seiner Zeit und weit darüberhinaus umbewegt haben". (2)

Voltaires persönliches Umfeld schien nach außen hin eng. Er lebte mit einer vertrauten Gruppe von Menschen, einigen Genfern, seinem Sekretär, seinen Dienern, seiner Geliebten und den Bauern, deren Leben er in kürzester Zeit verbessert hatte. Er bewässerte, legte trocken, teilte mit ihnen sein Wissen um Landwirtschaft und Viehzucht und holte Industrie ins Ländchen (vor allem die Uhrenherstellung). Er bemühte sich um die Befreiung der Leibeigenen in der umgebenden Landschaft Gex. Bald hingen die Bauern in Liebe und Verehrung an ihm. Heute sieht man das von den Nachfahren errichtete Standbild des ‘Patriarchen’, wie er sich gern nannte, auf dem Hauptplatz von Ferney und immer noch lächelt er auf seine ‘Kinder’ herab, die den Ort aus Dankbarkeit in "Ferney-Voltaire" umbenannt haben.

Seit einiger Zeit forderten ihn seine Freunde in Paris (Richelieu, d’Argental, Madame Du Deffand), die er zum Teil noch aus der gemeinsamen Schulzeit im Pariser Jesuitenkolleg kannte, auf, noch einmal nach Paris zu kommen. Ihn reizte das Ansinnen. Er zögerte jedoch und schreckte mit seinen 84 Jahren vor der Reise zurück. "Sie sprechen mir von Reisen", schreibt er am 2. Februar 1778 an Vaines. "Sie rühren etwas auf in mir und bringen mein Herz zum Zittern. Aber ich befürchte sehr, daß ich damit sogleich die kleine Reise in die Ewigkeit beginne". (3) Niemand nahm derlei Äußerungen ernst. Seit Jahrzehnten kündigte Voltaire ihnen seinen baldigen Tod an. Er war ein Hypochonder reinster Ausprägung. (4) Sein Paradox bestand darin, daß seine Gesundheit – in der Phantasie oder wirklich, ist kaum zu entscheiden – nie die beste war. In seinem mageren, skelettgleichen Körper wohnte indes eine ganz außergewöhnliche Kraft zu Aktivität und Kreativität. Seine Vitalität überstieg seine körperliche Schwächlichkeit bei weitem. Er kann am Ende seines Lebens, die Summe seiner Wirkung ziehend, selbstbewußt sagen: "Im menschlichen Geist hat sich eine Revolution ereignet, die nichts mehr zum Stehen bringen kann". (5)

In der Nacht vom 3. zum 4. Februar fällt Voltaires Entscheidung. Er wird dem Marquis de Villette, der sein Gast war und sein aus dem Kloster geholtes Mündel, "Belle et Bonne" genannt, geheiratet hat, ferner seiner Nichte, Madame Denis, nach Paris nachreisen. (6) Ihn drängten nicht nur seine Freunde, ihn drängte es selbst, seine eben fertiggestellte Tragödie "Irène" in Paris an der Comédie aufgeführt zu sehen, wo er als der führende Dichter in der Nachfolge Corneilles und Racines stets hatte Triumphe feiern können. Freilich war gerade der Februar der schlimmste Monat für Reisen und er beklagt seine "enorme Dummheit, bei meinem Alter". (7) Er wird dennoch reisen.

Hätte Voltaire nicht, spekulieren viele, im ruhigen und der Gesundheit zuträglichen Ferney bleiben sollen und noch viele Jahre leben können, anstatt auf so unvernünftige Weise sein Befinden zu kompromittieren? Noch 11 Jahre waren es bis zur Revolution. Was hätte er uns von ihr berichtet? "Hätte er auf seine Apotheose verzichtet", schreibt Pomeau allerdings, "so hätte er seiner Biographie den fünften Akt (mit großem Effekt) vorenthalten". (8) Wie auch immer: Seine Siedler überkam bei der Nachricht seines Aufbruchs äußerste Bestürzung. "Alle Bauern brachen in Tränen aus und schienen ihr Unglück vorauszuahnen. Er selbst weinte vor Rührung. Er versprach, bestimmt in eineinhalb Monaten zurück inmitten seiner Kinder zu sein. Das war wirklich seine Absicht; denn er ordnete weder seine Geschäfte noch schloß er Vermögenspapiere oder literarische Manuskripte weg". (9) Er sollte niemanden aus Ferney noch dieses selbst je wiedersehen.

2. Paris

"10. Februar 1778, 4 Uhr nachmittags. Die Nachricht: ‘Voltaire ist da!’ schlägt in der Stadt wie ein Blitz ein". (10) Voltaire wohnt im Haus des Marquis de Villette, heute am Quai Voltaire. Am 11. Februar bereits schreibt er an seine Freundin, die Marquise Du Deffand: "Ich komme tot hier an und ich will nur wieder auferstehen, um mich der Marquise Du Deffand zu Füßen zu werfen". (11). Es folgt die Zeit des Wiedersehens mit seinen Freunden und seine Mitwirkung an der Einstudierung seiner Tragödie "Irène" für die Comédie-Française. Er nimmt unverzüglich mit dem Schweizer Arzt Tronchin Kontakt auf, den er von Ferney her kennt und der sich gerade in Paris aufhält, um sich seiner Hilfe zu versichern:. "Der alte Kranke ist mit 84 Jahren und 84 Krankheiten gesegnet". (12) Alles, was Rang und Namen hat, findet sich im Hôtel Villette ein, um dem Philosophen aufzuwarten: Gluck, Piccinni, Diderot, Benjamin Franklin, der sich zu Verhandlungen der jungen amerikanischen Republik mit dem verbündeten Frankreich in Paris aufhält. Letzterer bringt seinen Enkel mit, den er von Voltaire mit den Worten: "Gott und die Freiheit" segnen läßt. (13) D’Argental schreibt nach seinem eigenen Besuch: "Das Gedränge um ihn, wiewohl sehr verdient, ist unglaublich. Sein Haus wird nicht leer. Er empfängt jeden mit der Anmut und dem Charme, den Sie ja an ihm kennen". (14) Als er einen Besuch bei seinem Arzt macht, "versammelten sich 400 Leute vor meiner Tür, und überall, wo er sich sehen läßt, ist es das gleiche Bild". (15)

Voltaire lebt allerdings in ständiger und starker Übererregung und die Besuche ermüden ihn. Erste Skepsis über dieses Leben, das dem friedlichen Dasein in Ferney vollkommen konträr ist, überkommen ihn. Er spricht von dem "lärmenden Strudel", in dem er sich befindet. "Ich werde dieses glanzvolle Chaos schnellstmöglich verlassen" (16), versichert er Florian. D’Alembert trifft Voltaire in Ängsten über seine Gesundheit und den kommenden Tod an und bittet Tronchin um seine besondere Aufmerksamkeit gegenüber dem Greis. "Er schien mir sehr erschreckt zu sein, nicht über seinen Zustand, sondern vor allem über die unangenehmen Folgen, die er nach sich ziehen könnte". (17) Voltaire hat D’Alembert klarsichtig seine Befürchtungen vor den Konsequenzen mitgeteilt, die ihn treffen könnten, wenn er fern von Ferney stürbe. Begänne dann nicht ein Gezerre um seinen Leichnam? Würde die klerikale Partei ihm ein würdiges Begräbnis gewähren? In Ferney hatte er vorgesorgt. Er hatte neben der Kirche in seinem Schloßgarten ein Mausoleum errichten lassen. In späteren Jahren jedoch, als sich wegen seiner Schriften die Zwistigkeiten mit dem Bischof seiner Diözese Annecy häuften, hatte er seinem Sekretär Wagnière die Anmietung einer Wohnung in der Schweiz aufgetragen, wo er unbehelligt von Priestern zu sterben und anschließend in seinem Badepavillon im Schloß beerdigt zu werden wünschte. (18) Was würde jedoch aus seinen Plänen im Falle seines Ablebens in Paris? Wieviele Kompromisse müßte er eingehen für eine anständige Beisetzung, um nicht, wie seine Jugendfreundin, die Schauspielerin Adrienne Lecouvreur, auf den Schindanger geworfen zu werden? Seine Befürchtungen sollten bald konkrete Gestalt annehmen.

Da Tronchin seinen Patienten nicht zu wirkungsvoller Selbstkontrolle hinsichtlich des Besucherandrangs bewegen konnte, veröffentlichte er im "Journal de Paris" vom 18. Februar 1778 die folgende Notiz: "Herr von Voltaire lebt seit seiner Ankunft vom Kapital seiner Kräfte; ... alle seine wirklichen Freunde müssen wünschen, daß er hier nicht nur von seiner Rente zehrt. So wie die Dinge gehen, werden seine Kräfte sich in kurzer Zeit erschöpfen und wir werden, wenn wir nicht Komplizen sind, Zeugen von Voltaires Tod sein". (19) Seine Besucher freilich sind von seiner geistigen Frische freudig berührt: "Es gibt auf der Welt nichts so Erstaunliches und Unglaubliches wie die gegenwärtige Existenz dieses großen Mannes, die fortdauernde Gegenwart seines Genies, die Verläßlichkeit seines Wissens und diese geistige Blüte, die seine Werke und sein Gespräch auszeichnen". (20)

"Der Geruch des Todes läßt die Raben auffliegen" (21), schreibt Manceron; "denn das Hochzeitsbett und das Sterbebett sind ihre bevorzugten Schlachtfelder". (22) Am 20. Februar erhält Voltaire, um den sich vorher schon etliche Priester bemüht hatten, einen Brief des Abbé Gaultier. "Viele, mein Herr, bewundern und preisen Sie in schönen Versen und eleganter Prosa, und ich möchte aus tiefstem Herzen zu Ihren Bewunderern zählen". (23) Er erbietet sich, ihm den größten aller Dienste zu erweisen, nämlich ihm bei der Versöhnung mit Kirche und Gott behilflich zu sein. Voltaire gefällt der Brief in der Vermutung, die geistliche Person gefunden zu haben, die ihm in den erwähnten Besorgnissen hilfreich sein könnte. Er antwortet noch am selben Tag, daß der Brief ihm der eines ehrbaren Menschen zu sein scheint, "und das genügt, um mich dazu zu bestimmen, die Ehre Ihres Besuchs zu dem Ihnen genehmen Tag und Augenblick anzunehmen". (24) Madame du Deffand teilt er gleichzeitig mit, daß er dem Besuch des Abbé aus guten Gründen zugestimmt habe. "Er bewahrt mich vor Skandal und Lächerlichkeit". (25) Bereits einen Tag später findet ein Gespräch zwischen Gaultier und Voltaire statt. Voltaire stellt mit Genugtuung fest, daß der Abbé weder vom Pfarrer von Saint-Sulpice, der Pfarrei seines Wohnplatzes, noch vom Erzbischof geschickt war. Er schien für seine Zwecke genau der richtige Mann zu sein, "ein gutmütiger Dummkopf" (26), wie er gegenüber Wagnière bemerkt.

Paris läßt jedoch nicht von ihm. Ein anonymer Berichterstatter schreibt am 24. Februar an Friedrich II.: "Voltaire nimmt alles in Anspruch, was man bei uns sieht und hört, und der Rest der Ereignisse, sei es in Amerika oder in Deutschland, scheint, damit verglichen, nur von sekundärer Bedeutung zu sein". (27) Während einer Probe zu "Irène", am 25. Februar, übernimmt Voltaire zur Belehrung eines Schauspielers selbst eine Rolle des Stücks, trägt sie laut in der von ihm gewünschten Weise vor und erleidet einen Blutsturz. "Das Blut schoß ihm aus Mund und Nase mit der gleichen Heftigkeit, wie wenn man den Hahn einer unter Druck stehenden Fontäne öffnet" (28), schreibt Wagnière. Voltaire schickt seinen Sekretär unverzüglich zu Abbé Gaultier. Wagnière jedoch, voltairianischer als Voltaire selbst, gibt vor, ihn nicht gefunden zu haben, "damit man nicht sagen könne, daß Herr von Voltaire Schwäche gezeigt habe". Voltaire sagte darauf zu den Umstehenden: "Wenigstens können Sie bezeugen, meine Herren, daß ich danach verlangt habe, das zu erfüllen, was man hier seine Pflichten nennt". (29)

Am 26. Februar bittet Voltaire und am 27. Madame Denis Gaultier brieflich um einen Besuch (30) bei dem Kranken. Der Abbé kommt jedoch erst am 2. März, da er sich inzwischen seinen Vorgesetzten, Pfarrer Tersac von Saint-Sulpice und dem Pariser Erzbischof Beaumont eröffnet hat. Gaultier wird augenscheinlich betreffs einer Vereinbarung: Widerruf gegen ein christliches Begräbnis des Philosophen, mit Anweisungen versehen. Beaumont ermutigt Gaultier bei seinem christlichen Werk und ermahnt ihn bei diesem Mann zu Diskretion nach außen. (31) Am 2. März erscheint Gaultier dann bei Voltaire. Dieser ist sich bewußt, was auf dem Spiel steht. Er strebt eine Minimalkonzession gegen die erhoffte Bereitschaft der Kirche gegenüber seiner prospektiven sterblichen Hülle an. McManners ist sicher, daß der Philosoph in den wichtigen Punkten keinen Fehler machen würde. (32) Voltaire selbst will "als Philosoph", nicht "als durchnäßtes Huhn" ("poule mouillée" ist auch mit "Memme" zu übersetzen), wie etwa Montesquieu, der alles widerrufen hat, sterben. (33)

In der Tat macht es ihm Gaultier leicht, der sich offenkundig von dem großen Namen beeindrucken läßt. "Wenn Sie wollen", redet ihn Voltaire an, "werden wir diese kleine Angelegenheit sofort erledigen". (34) Die vorbereitete Erklärung, in Wahrheit ein Widerruf seines Lebens und Werks, die mit Gaultier für diesen Fall eingeübt worden war, fegt Voltaire mit der Bemerkung vom Tisch: "Ich werde sie selbst anfertigen, ... man gebe mir Papier und lasse mich mit Herrn Gaultier, meinem Freund, allein". (35). So kommt es zu der folgenden Stellungnahme Voltaires vom 2. März 1778: "Der Unterzeichnete erklärt, daß er seit vier Tagen und im Alter von 84 Jahren von Blutspuckanfällen heimgesucht wird. Da er sich nicht zur Kirche schleppen konnte und der Herr Pfarrer von Saint-Sulpice seinen übrigen guten Werken noch das hinzugefügt hat, ihm den Priester Herrn Abbé Gaultier zu schicken, habe ich bei ihm gebeichtet und ich sterbe, wenn Gott über mich verfügen will, in der heiligen katholischen Religion, in der ich geboren bin. Ich hoffe auf die göttliche Barmherzigkeit, daß sie mir alle meine Sünden vergeben will, und wenn ich je der Kirche Ärgernis gegeben habe, bitte ich dafür Gott und sie um Verzeihung". (36)

Der Abbé gab ihm daraufhin die Absolution und wollte, wie natürlich, zur Kommunion schreiten. Doch Voltaire wehrte, scheinbar aus Pietätsgründen, ab. "Herr Abbé, bedenken Sie, daß ich ununterbrochen Blut spucke. Man muß achtgeben, das Blut des lieben Gottes nicht mit dem meinigen zu vermischen". (37) Der Beichtiger wußte darauf nichts zu antworten. Man bat ihn, den Kranken allein zu lassen, und er ging, versehen mit 600 Pfund für die Armen der Gemeinde, fort. Gaultiers unmittelbarer Vorgesetzter, Tersac, erkannte wohl, daß Voltaire in den wesentlichen dogmatischen Punkten keine Konzessionen gemacht habe: Er ist geboren "in der katholischen Religion", aber er ist kein Christ; die Frage der Offenbarung der Schrift ist nicht aufgeworfen worden ebensowenig wie die der Gottessohnschaft Jesu; keines seiner Werke hat er verleugnet oder widerrufen. Gaultier, auf Anerkennung hoffend, legt dem Erzbischof unverzüglich die Erklärung des Greises von Ferney vor. "Schon bei der ersten Lektüre des Widerrufs durchschaut das Auge des Prälaten den philosophischen Schleier und bemerkt den Trug. Der Beichtiger wird wegen seiner guten Absichten entschuldigt und erhält in Anbetracht seines einfachen Charakters und dem seines Beichtkinds, das keinen solchen hat, Instruktionen. Man zeichnet ihm den Weg vor, den er künftig für die Ehre der Religion und das Heil des Kranken einzuschlagen habe. Aber alle Maßregeln sind nutzlos". (38)

Voltaire, der nach der Sündenvergebung sein Ziel erreicht glaubte, verschließt dem Abbé die Tür. Er werde nur noch den Pfarrer von Saint-Sulpice einlassen, den er für seinen nächsten Gegner hält. (39) In der Tat scheint dieser Geistliche auf das unaufgeforderte Vorpreschen seines naiven Kollegen eifersüchtig gewesen zu sein und Voltaire versucht, ihn zu besänftigen, wie sich zeigen wird, vergebens. "Der Abbé", schreibt Pomeau, "wird von der Bildfläche verschwinden. Er hat sich disqualifiziert und Voltaire braucht ihn nicht mehr". (40) Der Sekretär Wagnière, der Freund und Wächter über Voltaires Ehre, hatte den Patriarchen wenige Tage vorher, am 28. Februar, nach seiner wirklichen Meinung befragt. Auch ihn bat der Greis um Papier und Schreibzeug und übergab ihm folgende schriftliche Erklärung: "Ich sterbe in Anbetung Gottes, in Liebe zu meinen Freunden, ohne Haß auf meine Feinde und voll Abscheu gegenüber dem Aberglauben". (41) Desnoiresterres, der das Autograph dieser Erklärung in der Nationalbibliothek einsah, schreibt dazu: "Diese zwei Zeilen sind mit so klarer und sicherer Hand geschrieben, daß sie bei einem Greis Erstaunen wecken". (42) Sie können als Voltaires wirkliches Glaubensbekenntnis gelten.

Voltaire erholte sich rasch von seinem Blutsturz, der auf den Bruch eines Blutgefäßes zurückging und alles in allem nicht gefährlich gewesen war. Er hatte die Kommunion, die am ehesten als Konversion ausgelegt werden konnte, verweigert. Trotzdem wurden ihm nach seiner Gesundung von seinen Parteigängern Fragen gestellt, die er so beantwortete: "Sie wissen, was in diesem Land vorgeht. Man muß ein wenig mit den Wölfen heulen, und wenn ich an den Ufern des Ganges lebte, würde ich mit einem Kuhschwanz in der Hand sterben wollen". (43) Voltaires Hauptmotiv für diese Winkelzüge und Katz-und-Maus-Spiele mit der Kirche war seine Angst, ihm könne von seiten des Klerus dasselbe widerfahren wie Molière, wie so vielen anderen: "Ich will nicht, daß man meine Leiche auf den Schindanger wirft ...; dieses Priesterpack macht mich fertig. Aber nun bin ich in seinen Händen, ich muß mich wohl oder übel da herausziehen. Sobald ich transportfähig bin, gehe ich weg. Ich hoffe, daß mich ihr Eiferertum nicht bis Ferney verfolgt". (44)

Voltaires Angst vor Mißhandlung seines Leichnams ist gewiß irrational und verwundert etwas bei ihm. Vor Jahren hatte er an Friedrich geschrieben: "Von welcher Bedeutung ist es für uns, wenn wir nicht mehr sind, was man mit unserem armseligen Leichnam und unserer angeblichen Seele macht und was man von ihr hält"? (45) Niemand hätte übrigens Einwände gehabt, wenn man einen von der Kirche zum rituellen Begräbnis abgewiesenen Toten in einem Garten beigesetzt hätte. Der Schindanger war zu dieser Zeit also nicht mehr wörtlich zu nehmen. "Dieser große Geist hatte diese kleine Angst" (46), schreibt Manceron, und Duvernet, einer der frühen Biographen Voltaires, erzählt ohne Tadel für den Philosophen von Ferney die Geschichte von Diderots Lebensende, der in diesem Punkt über größere innere Freiheit verfügte. Auch Diderot lebte in Tersacs Gemeinde. "Er redete mit ihm über die Religion und Diderot betrachtet ihn darauf mit Erstaunen. Tersac fährt fort und läßt durchblicken, daß er Voltaire das Begräbnis nur verweigert habe, weil er nicht an Jesus Christus geglaubt habe: ‘Ich verstehe Sie, Pfarrer, Sie wollten Voltaire nicht beisetzen, weil er nicht an die Gottessohnschaft glaubte. Nun gut, wenn ich tot bin, mag man mich begraben, wo man will. Aber ich erkläre, daß ich weder an den Vater noch an den Sohn noch an den Heiligen Geist noch an irgendjemanden aus dieser Familie glaube. Adieu, Herr Pfarrer!’ Wenige Tage später starb Diderot mutig und ergeben". (47)

Voltaire genas bald. "Er hat sich von seinem Unfall erholt, als wäre er eben dreißig Jahre", (48) urteilt Madame Du Deffand. Da ganz Paris an seiner Erkrankung und seinem Widerruf Anteil nahm, setzte die Turbulenz um ihn erneut ein. "Heute weckt er nicht mehr nur Achtung, man glaubt ihm einen förmlichen Kult schuldig zu sein". (49), und noch einmal Madame Du Deffand: "Ehrungen werden ihm zuteil, für die es noch niemals ein Beispiel gab. Mit Ausnahme der Sorbonne neigt sich alles vor ihm und betet ihn an". (50) Wenn Voltaire ausfuhr, folgte ihm eine riesige Menge "und er segnete sie wie ein Bischof". (51) Sein funkelnder Witz ist zurückgekehrt. In Anspielung auf die bevorstehende Premiere seines Dramas "Irène", dessen ungewisser Erfolg in ihm Besorgnisse weckt, ruft er aus: "Sie können sich nicht vorstellen, wie hart es ist, im selben Monat die Beichte abgenommen zu bekommen und ausgepfiffen zu werden". (52)

Am 30. März erfuhr Voltaire einen beispiellosen Triumph, eine nie gekannte Apotheose zu Lebzeiten, und zwar gleich in dreifacher Gestalt: in der Akademie, in der Comédie-Française und in den Straßen von Paris. (53) Als er in der Akademie eintraf, gingen ihm alle Mitglieder – eine ganz unübliche Ehrung – entgegen. Im Sitzungssaal wurde er gebeten, die Leitung des Hauses für das nächste Trimester zu übernehmen, ohne daß darüber eine Abstimmung stattfand. Von da setzte er seine Fahrt, einem antiken Triumphator durchaus nicht unähnlich, fort. Man ließ ihn hochleben, nannte ihn den Mann, der Calas befreit habe, eine Anspielung auf die erfolgreiche Revision des Prozesses um Calas, der wegen haltloser Verdächtigungen, ein Sakrileg begangen zu haben, grausam hingerichtet worden war. "Zum ersten Mal in der Geschichte", schreibt Manceron, "werden zwei Schriftsteller von Menschen gekannt, die nicht lesen können: Voltaire und Rousseau". (54)

Im Theater tobt die Menge, spendet Beifall und ruft immer wieder seinen Namen, als er in der Loge Platz genommen hat. Auf dem Programm steht die 6. Aufführung seiner "Irène". Stimmen werden laut: "Man bringe ihm einen Kranz!". Der Schauspieler Brizard betritt seine Loge, gefolgt von Madame de Villette ("Belle et Bonne"). Sie drücken ihm eine Dichterkrone auf das Haupt, die er unverzüglich wieder abnimmt. Nach 20 Minuten wilden Applauses beginnt die Vorstellung, immer wieder unterbrochen von Rufen: "Es lebe Voltaire! Es lebe der französische Sophokles! Es lebe unser Homer!" Niemand war gekommen, um das Spiel, sondern alle, um den Autor zu sehen und zu feiern. Am Schluß des Stücks verstärkt sich der Applaus noch. Voltaire verneigt sich stehend an seinem Zuschauerplatz. Der Vorhang hebt sich erneut und gibt den Blick auf eine Büste Voltaires frei. Alle Schauspieler umtanzen sie und schmücken sie mit Blumen und Girlanden.

In den Straßen wird Voltaire weiter gefeiert. Er kann mit eigenen Augen die Wirkung seiner sechzigjährigen Aktivität zugunsten der Verbesserung des Lebens der Rechtlosen, zugunsten der "Aufklärung" wahrnehmen. Jeder möchte ihn wie einen Heiligen berühren. Voltaire ist für Augenblicke kollektiver Verzückung "König von Paris" (55) und erfährt Ehrungen, von denen der wirkliche König nur träumen kann. Der Hofprediger Beauregard denunziert vor dem König diese sakrilegischen Zeremonien um den Philosophen, dessen Geist nach seiner Krankheit wieder in alter Strahlkraft leuchtet: "Ich glaube, daß der Herr Abbé Beauregard ... mir gerne ein Begräbnis verweigert hätte, was indes ungerecht ist: denn ich könnte mir, so sagt man, nichts Besseres wünschen als ihn zu beerdigen; und mir scheint, er schuldet mir dieselbe Höflichkeit". (56)

Voltaire hat noch zwei Monate zu leben. Er nutzt den Akademievorsitz, um die Erstellung eines neuen französischen Wörterbuchs voranzutreiben. Er zögert, wo er seinen künftigen Wohnsitz aufschlagen solle. Ferney ruft ihn, die Verhältnisse dort sind ungeregelt. Seine Untertanen wünschen mit Sehnsucht seine Rückkunft. Madame Denis möchte in Paris bleiben. Es wird um ihn intrigiert. "Alle wollen das Beste für ihn, jeder auf seine Weise. Tronchin erschreckt seinen Patienten und sucht bei dem Unglücklichen mit grausamer Genüßlichkeit die geringsten Zeichen von Schwäche aufzuspüren. Madame Denis mag ihren Onkel gerne, aber sie denkt an das Erbe und will alles reglementieren. Die Priester arbeiten daran, die Seele des Sünders zu fassen zu kriegen, während Wagnière, immer treu ergeben, immer argwöhnisch, sich zum Wächter des Leibes (und der Ehre) des greisen Mannes macht. Jeder überwacht jeden. Alle horchen an den Türen. Draußen schließlich paßt ganz Paris auf. Wird Voltaire als Philosoph sterben?". (57)

Ein Brief von Thibouville (58) trifft ein, der zu wissen glaubt, daß der König Voltaire, wenn er Paris erst verlassen hätte, nicht mehr zurückkehren ließe. Das ist Wasser auf die Mühlen von Madame Denis. Voltaire ist nach wie vor unentschieden, ob er Ferneys Aufbau und die Arbeit für das Wohl seiner Bewohner fortsetzen oder das lang vermißte Pariser Leben fortführen solle. Er kauft ein Haus in Paris und teilt Wagnière seine Zwiegespaltenheit mit: "Oh, mein Freund, ich habe eben ein Haus erworben und habe mir damit nur mein Grab eingehandelt". (59) Wagnière, der alle seine geschäftlichen Angelegenheiten seit 25 Jahren kennt, wird nach Ferney geschickt und sieht seinen Herrn nicht mehr.

3. "Die kleine Reise in die Ewigkeit"

Die letzte Phase der Krankheit Voltaires beginnt am 10. Mai. Er schreibt an Florian: "Ich bin grausam krank". (60), und an Wagnière am 13. Mai: "Ich bin gegenwärtig in allen Schrecknissen des Leidens". (61); am 15. Mai: "Ich habe unglaubliche Schmerzen" (62), "unerträgliche Schmerzen" (63). Voltaire selbst und auch Tronchin schreiben seine Krankheit einer lang zurückreichenden Strangurie (Harnverhaltung wegen Prostataverdickung) zu. Seit jedoch 1978 auf der Grundlage des Autopsieberichts erstmals die Hypothese geäußert wurde, Voltaire sei an Prostatakrebs gestorben, schossen alle Leidensdetails zu einem einleuchtenden Krankheitsbild zusammen und die Diagnose wird kaum mehr angezweifelt. (64) Voltaires Tage waren also gezählt, wo immer er sich aufhalten mochte.

Voltaire liebte das Leben, das er führte und das ihm sinnvoll erschien. Zahlreich sind seine melancholischen Ausführungen über dessen Kürze und die Unerbittlichkeit des Endes. (65) Er schreibt an die Marquise Du Deffand: "Wir sind Opfer, alle sind wir zum Tode verurteilt. Wir gleichen Schafen, die blöken, spielen, hüpfen, bis man sie schlachtet. Ihr großer Vorteil über uns ist, daß sie ihre Schlachtung nicht ahnen, während wir um sie wissen". (66) Er schied zweifellos nicht leicht. "Er konnte sich schwer dareinschicken, inmitten des berauschendsten Festes Abschied zu nehmen. Man sollte gehen, wenn man Arbeitspläne auf Jahre hinaus hat! Mit 83 Jahren zürnte Voltaire darüber, zu früh sterben zu müssen". (67) Seine Erwartungen eines Nachher waren alles andere als eindeutig. Einerseits glaubte der Deist an ein höchstes Wesen: "Ich werfe mich Gott in die Arme und ich werde gleichermaßen weit entfernt von Gottlosigkeit wie von Fanatismus sterben" (68), schreibt er 1768. Andererseits überkamen ihn immer wieder Zweifel an der Unsterblichkeit der Seele, an der Existenz Gottes, an der Hoffnung auf ein Nachleben. An Condorcet etwa schrieb er am 4. April 1777, daß er sich wohl bald "da oben oder da unten oder nirgendwo" (69) präsentieren werde.

Es geht aus den vorhandenen Dokumenten hervor, daß er in den letzten Tagen am meisten seinen Sekretär Wagnière, mit dem ihn eine sachliche, aber durchaus solide Freundschaft verband, vermißte. Der Sekretär war treu und selbstlos, Voltaires rechte Hand in allem und philosophisch sein unbedingter Anhänger. Je näher Voltaire an den Tod kam, desto mehr bedauerte er auch seinen eigenen Weggang von Ferney. Er schreibt Wagnière am 10. Mai: "Ich habe Ihnen schon mitgeteilt, wie sehr ich Sie zu sehen wünsche und wie sehr ich Ferney inmitten des glanzvollen Tumults von Paris vermisse. ... Sie brauche ich vor allem, mein lieber Freund, und besonders in dem unheilvollen Zustand, in den ich versetzt bin". (70) Und am 13. Mai schreibt er ihm: "Ich fürchte sehr, daß ich mein Glück gegen Rauch vertauscht habe. Im übrigen verschlimmert sich meine Krankheit von Tag zu Tag.". (71); und schließlich am 24. Mai: "Ich sterbe, mein lieber Wagnière, es scheint schwierig, daß ich davonkomme. Ich bin schwer gestraft für Ihre Abreise, für das Verlassen Ferneys und für den Kauf eines Hauses in Paris". (72) Aus einem Brief des Dieners Morand vom 24. Mai geht hervor, daß Voltaire ihm diese Nacht mehr als zwanzig Mal wiederholt habe, daß er es bereue, nach Paris gekommen zu sein. (73)

Madame Denis, die eine Testamentsänderung befürchtet, läßt nicht alle Briefe Voltaires an Wagnière nach Ferney abgehen und enthält ihm auch Wagnières Briefe, in denen er ihn dringend bittet, nach Ferney zurückzukehren, vor. Mindestens sechs Briefe, die Voltaire erreicht haben sollten, sind von ihr zwar gelesen, aber nicht weitergereicht worden. Sie sind im Briefkorpus der Oeuvres complètes der Voltaire Foundation als in Madame Denis’ Papieren gefunden verzeichnet. (74) Einen Scheck seines Bankiers über 80 000 Pfund hat sie Voltaire nicht ausgehändigt und über sein Eintreffen geschwiegen. Voltaire glaubte, das Geld sei entwendet und klagte Wagnière: "Ah, wie hat man mich betrogen! Ich kann nicht mehr!" (75). Nach Wagnières Bericht wies Voltaire seine Nichte am 26. Mai aus dem Zimmer mit dem Vorwurf, sie sei schuld an seinem Tod. (76) Für die Hinausweisung gibt Wagnière zwar keine näheren Gründe, sie sind aber unschwer zu erschließen. Madame Denis hat ihren Onkel zu Lebzeiten nicht mehr gesprochen. Als keine Aussicht auf Überleben mehr bestand, schreibt d’Hornoy, Voltaires Neffe, an Wagnière, er solle unverzüglich kommen, es sei kaum noch Hoffnung. Er verlange jedoch ständig nach ihm. (77) Erst dieser Brief klärt ihn über die Schwere des Zustands seines Herrn auf und so machte er sich sofort auf den Weg nach Paris, traf jedoch erst nach Voltaires Tod dort ein.

Ein letzter Triumph seiner Lebensarbeit war ihm noch am 26. Mai vergönnt, als er erfuhr, daß der zu Unrecht hingerichtete Admiral Lally durch seine Bemühung rehabilitiert worden sei. Er schreibt an Lallys Sohn: "Der Sterbende erwacht zu neuem Leben bei dieser großen Nachricht. Er umarmt Herrn Lally herzlich. Er sieht, daß der König der Verteidiger der Gerechtigkeit ist. Er stirbt zufrieden". (78) Gegen die Schmerzen nimmt Voltaire ein Opiumpräparat seines Freundes Richelieu, das ihn delirieren läßt und ihm eine Magenlähmung verursacht. (79) Er spricht kaum noch und nimmt nichts mehr zu sich. Sein gegenüber D’Alembert geäußerter Vorsatz: "Ich werde, wenn ich kann, lachend sterben", (80) scheint in dieser Situation nicht durchführbar. Nach glaubwürdiger Auskunft seiner nächsten Umgebung (81) ist er, der zwei Wochen lang von furchtbaren Schmerzen gequält worden war, von allgemeiner Erschöpfung überwältigt, die letzten Tage friedlich in den Tod gedämmert, der endlich am 30. Mai eintrat. Längst (seit 23. Mai) waren sich Minister Amelot, Polizeileutnant Lenoir, Bischof Beaumont und die Familie darüber einig geworden, um Voltaires Leichnam einen Skandal zu vermeiden. Der Presse wurde Stillschweigen auferlegt, das Gerücht ausgestreut, Voltaire wolle in Ferney sterben. Sobald der Tod eingetreten sei, solle der Leichnam einbalsamiert die Stadt verlassen, in der die Klerisei ihn unter keinen Umständen beerdigen wollte. (82)

Die Todeswitterung bringt die Raben zurück. Abbé Gaultier bietet am 30. Mai , an Voltaires Todestag, erneut seine Dienste an. (83) Diesmal allerdings kommt er nicht allein, sondern in Begleitung einer Aufsicht, nämlich des Pfarrers Tersac. Sie sind entschlossen, dem Sterbenden einen vollen Widerruf abzuringen oder seinen Wunsch nach einem kirchlichen Begräbnis zu verwerfen. Der genau ausgefeilte und getüftelte Text (84) war dazu angetan, Voltaire, wäre seine Angst größer gewesen als seine lebenslang vertretenen Grundsätze, in die Knie zu zwingen. Die beiden Geistlichen wurden zu Voltaires Bett geführt und ihm wurde gesagt, der Abbé Gaultier sei da. "’Nun gut’, sagte er, ‘übermittelt ihm meine Grüße und meinen Dank!’ Der Abbé sprach sodann einige Worte, die ihn zur Geduld ermahnen sollten. Darauf trat der Pfarrer von Saint-Sulpice vor, gab sich zu erkennen und fragte M. de Voltaire, indem er laut die Stimme erhob, ob er die Gottheit unseres Herrn Jesus Christus anerkenne. Der Kranke griff darauf nach der Kalotte des Pfarrers, stieß ihn zurück und rief aus, indem er sich auf die andere Seite drehte: ‘Laßt mich in Frieden sterben!’". (85) In der Version Duvernets "raffte" der sterbende Philosoph, als der Pfarrer die Frage nach der Göttlichkeit Jesu zum zweiten Mal stellte, "seine Kräfte zusammen, ließ zum letzten Mal seinem ungestümen Charakter freien Lauf, stieß ihn mit einem Fausthieb zurück und sagte: ‘In Gottes Namen! Reden Sie mir nicht von diesem Menschen!’". (86) Der Pfarrer verkündete darauf seinen Priestern, daß Voltaire nicht als Christ, sondern als Philosoph sterbe, daß er sterbe wie er gelebt habe, daß er ihn nicht beerdigen werde und daß er, sollte er höheren Orts dazu gezwungen werden, ihn nachts wieder exhumieren und auf den Schindanger werfen lassen werde.

Zu seinem Diener Morand soll Voltaire gegen elf Uhr abends als letzte Worte gesprochen haben: "Adieu, mein lieber Morand, ich sterbe". (87) Nach Bariatinskys Bericht an seine Kaiserin soll er hinzugefügt haben: "Kümmern Sie sich um Mama". (88) Mit letzterem Kosewort pflegte er seine Nichte, Madame Denis, zu bezeichnen. Immerhin hatten sie Jahrzehnte zusammengelebt. "Voltaire", berichtet Duvernet weiter, "starb ruhig und mit der Gefaßtheit eines Philosophen, der sich mit dem großen Wesen vereinigt". (89) In einem ganz anderen Sinn als ihn Pater Harel gemeint hatte, der ihn mit dem Spruch zu vernichten gedachte, bleibt für Voltaires Tod als Lebenssumme: "Er ist gestorben wie er gelebt hat. Qualis vita, talis mors". (90)

4. Die Legende

Die Legende um den Tod Voltaires, der, als "der gottloseste Schriftsteller seiner Nation" (91), nur zur Höllenfahrt bestimmt sein konnte, nimmt ihren Ausgang von seinem Genfer Arzt Théodore Tronchin. Ihrer beider Verhältnis ist nicht leicht zu begreifen, ist er doch Voltaires Arzt seit 1754. Eine erste Abkühlung von seiten Tronchins erfolgte 1760, als er in Voltaire den Autor einer antichristlichen Flugschrift zu erkennen vermeinte. Voltaire schätzt an ihm seine ärztliche Kompetenz, bezweifelt aber insgesamt die Heilfähigkeit der Medizin seiner Zeit. Er zieht es vor, sich selbst aus eigener Lektüre mit medizinischen Kenntnissen vertraut zu machen und hält Verordnungen Tronchins nur ein, wenn es ihm opportun erscheint. (92)

Kaum ist Voltaire am 10. Februar in Paris eingetroffen, sucht er sich prophylaktisch der Hilfe Tronchins zu versichern, der zu der Zeit in Paris praktiziert. Am 12. Februar schreibt er an ihn: "Der alte Kranke, erstaunt, daß er noch lebt, der früher ein übler Scherzbold war, aber stets ein Bewunderer wahren Verdienstes geblieben ist, bezeugt dem assoziierten Mitglied (sc. der Akademie), dem wenige Menschen in seiner Kunst assoziierbar sind, seinen Respekt". (93) In diesem, wie auch in folgenden Schreiben glaubt man zu erkennen, daß Voltaire sich tiefer vor Tronchin verbeugt als für ihn gebührlich war, um dessen Vorbehalte ihm gegenüber, die er zu kennen scheint, zu überwinden. An François Tronchin berichtet der Arzt drei Tage später von diesem Brief mit Ironie und unter Anreicherung mit nicht wirklich in Voltaires Brief enthaltenen Aussagen: "Ihr alter Nachbar ... hat mir einen Liebesbrief geschrieben. Er hat, sagt er, was das Seelische und Leibliche anbetrifft, nur zu mir Vertrauen. Ich habe ihn immer noch als den gleichen vorgefunden, stets in Angst vor seinem Schatten und sich nie in Sicherheit wähnend". (94)

In diesem Ton gehen die Briefe Tronchins über Voltaire weiter, so z.B. jener an Bonnet, einen Gegner des Philosophen: "Voltaire bringt man schier um hier vor lauter Lobhudeleien. Das ist ohne Beispiel. Er hatte sich eingebildet, daß ich ihn nicht mehr sehen möchte, und diese Vorstellung quälte ihn. Gleich bei seiner Ankunft schrieb er mir einen weihrauchparfümierten Brief, in dem er mir ewige Achtung und Freundschaft schwört. Ich ging zu ihm. ‘Sie waren’, sagte er, ‘mein Retter, seien Sie hier mein Schutzengel’, und dann brach er in Tränen aus". (95) Nachdem Voltaire sich von seiner Hämoptyse vom 25. Februar leidlich erholt hat, bemerkt Tronchin: "Voltaire ist noch einmal davongekommen, ich hätte das nicht mehr erwartet. Ich wette, er ist um den Teufel herumscharwenzelt und dieser um ihn und tut es immer noch. Wenn er fröhlich stürbe ..., würde ich mich arg täuschen ... Er wird sich sicher seiner Unruhe und der Schwierigkeit, die er hat, das Sichere für das Unsichere einzutauschen, überlassen". (96) Tronchin bezeichnet ihn weiter als "hasenherzigen Achtzigjährigen, der mit dem ewigen Leben ein wenig zerstritten ist. Ich glaube, daß ihn sein nahes Ende sehr bedrückt. Ich bin sicher, daß er darüber nicht spottet. ... Das Ende ist für Voltaire ein verflixter Augenblick, wenn er seinen Kopf bis zum Ende behält". In Tronchins Augen wird er ein "platter Sterbender" sein, den "Ärger und Angst" beherrschen, "Voltaire wird zittern. Das ist ja nichts Neues". (97)

Als endlich Voltaires Krankheit in das letzte Stadium eintritt (am 10. Mai), entringt sich dem Arzt sein ganzer Groll gegen seinen gottlosen Patienten. "Heute, da Voltaire seinem Ende nahe ist, öffnen sich die Münder und ich glaube schon zu bemerken, daß man ihn doch wenigstens bedauert. Schon wägt man das Übel, das er der Gesellschaft angetan hat, welches Leute, die sonst nicht gerade streng sind, den Kriegen, der Pest, den Hungersnöten, die seit Tausenden von Jahren die Erde verwüsten, gleichsetzen". (98) Der Buchhändler Hardy berichtet am 2. Juni 1778, Voltaire habe Tronchin angefleht: "Holen Sie mich da heraus, Monsieur"; worauf Tronchin unerbittlich geantwortet habe: "Ich kann nichts tun, Monsieur, Sie müssen sterben". (99)

In einem letzten Brief an Bonnet vom 27. Juni, also nahezu einen Monat nach Voltaires Verscheiden, ist das Bild Tronchins von des Philosophen Tod zu einem unentwirrbaren Gemenge zwischen Realität und innerer Erwartung des strengen Kalvinisten geronnen: Wenn man den Tod eines Ehrenmannes mit dem Voltaires vergleiche, sei der Unterschied so wie zwischen einem schönen Tag und einem Sturm, zwischen der Seelenheiterkeit eines Weisen, der zu leben aufhöre, und der entsetzlichen Qual eines Menschen, für den der Tod der König aller Schrecknisse sei. "Er hat alle Torheiten begangen, die seinen Tod beschleunigt haben und die ihn in einen Zustand schrecklichster Verzweiflung und Wahnsinns versetzt haben. Sobald er sah, daß alles, was er zur Stärkung seiner Kräfte unternommen hat, eine ganz gegenteilige Wirkung hatte, schwebte ihm der Tod ständig vor Augen. Von da an bemächtigte sich Raserei seiner Seele. Erinnern Sie sich an den Wahnsinn Orests: Furiis agitatus obiit". (100) Und doch wundert sich Tronchin, ohne irgendwelche Schlüsse daraus für sich selbst zu ziehen, daß auch fromme Leute bisweilen schwer sterben können. "Wie kommt es, daß auf ganz andere Weise der große Haller sich nicht besseren Trostes erfreuen konnte als er und daß die so tröstliche Religion nicht Stärkeres als die Irreligiosität bereithält? Mein guter Freund, hier verliere ich mich". (101)

Neuere Voltaire-Biographen sind sich einig in der Verurteilung eines Fanatismus, der die ärztlichen vor den religiösen Gesinnungen gröblich mißachtet und der für seinen Patienten eher nachteilig gewesen sein dürfte. "Tronchin wird rasend vor Haß ... Dieser verbohrte Kalvinist kann nicht zugeben, daß ein Mann, dem die Göttlichkeit Jesu gleichgültig ist, anders stirbt als in der Vorhölle. Gott sei Dank leidet Voltaire! So ist ja alles gut". (102) Manceron nennt Tronchin rundweg einen "Henkerarzt". (103) Er habe kein Recht gehabt, seines Patienten Agonie auszuplaudern. (104) Erst als D’Alembert in der Akademie öffentlich über solches Verhalten Klage führte und Tronchin der Indiskretion zieh, der Familiengeheimnisse an die Öffentlichkeit trage, verstummte er. (105)

Dennoch wirkte Tronchins Brief an Bonnet, der in Paris offen zirkulierte, bei denen weiter, die auf Voltaires Sturz in das Inferno spekulierten, obwohl Tronchin an Voltaires Sterbebett gar nicht anwesend war. (106) Am 7. Juli 1778 veröffentlichte die französischsprachige Kölner Zeitung "La Gazette de Cologne" dann folgenden anonymen Bericht: "Dieser Tod war nicht friedlich. Wenn das, was ein sehr ehrenwerter Mann aus Paris berichtet, und was im übrigen von dem Augenzeugen Herrn Tronchin bestätigt wird, den man wohl kaum widerlegen kann, wahr und richtig ist, dann traten bei Herrn von Voltaire kurz vor seinem Tod schreckliche Erregungszustände auf und er schrie wie rasend: ‘Ich bin von Gott und den Menschen verlassen’. Er biß sich in die Finger, führte seine Hände in seine Nachtschüssel, faßte, was sich darin befand, und aß es. – ‘Ich wollte’, sagte Herr Tronchin, ‘daß alle, die von seinen Schriften verführt wurden, Zeugen dieses Todes gewesen wären. Es ist unmöglich, ein derartiges Schauspiel auszuhalten’. So endete der Patriarch dieser Sekte, die sich durch ihn geehrt glaubt". (107)

Von diesem Text aus beginnt sich die Phantasiearbeit derer, die sich mit Wonne an dem Leiden des Philosophen weiden, zu verselbständigen. Der anonyme Text, den Lachèvre 1908 herausgab, beschreibt Voltaires Verhalten als tierähnlich und insgesamt von geringer philosophischer Größe. Das Höllenthema klingt bereits deutlich an: "’Ich brenne’, schrie er oft. Er schlug um sich, er fluchte, er spie gräßliche Verwünschungen aus". (108) Harel fügt bereits 1781 die Verlautbarungen des Berichterstatters jener Kölner Zeitung als wahrhaftig ein. (109) Im Jahre 1835 hat Abbé Depery durch die gutgläubige Madame de Villette von Voltaires furchtbaren Schmerzen erfahren und mißbraucht ihre Aussage offensichtlich für seine zweifelhaften erbaulichen Zwecke. "Als sich der letzte Augenblick näherte, ergriff den Sterbenden erneut Verzweiflung; er schrie auf, daß er eine unsichtbare Hand spüre, die ihn vor den Richterstuhl Gottes zerre; er rief unter entsetzlichem Heulen Jesus Christus an, den er sein ganzes Leben lang bekämpft hatte; er verfluchte seine gottlosen Kumpane, rief den Himmel an und verwünschte ihn in einem. Schließlich führte er, um seinen brennenden Durst zu stillen, der ihn erstickte, sein Nachtgeschirr an den Mund. Er stieß einen letzten Schrei aus und verschied inmitten seines Unrats und Bluts, das ihm aus Mund und Nase troff". (110) D’Allonville schließlich weiß 1838 von Voltaires entsetztem Ausruf zu berichten: "’Er ist da, er will mich packen!’ und seine Blicken glitten zum Bettrand ... ‘Ich sehe ihn ... Ich sehe die Hölle ... Schafft sie mir weg!’ Diese Szene jagte allen Horror ein". (111) "Wenn der Teufel zu sterben gedächte, stürbe er nicht anders" (112), sagte der Koch des Hôtel Villette, dem eine geistliche Person diese Äußerung zu Voltaires Tod entlockte. Wie sonst auch, dürfte auch hier die Art des Fragens die Antwort schon enthalten haben.

Weitere Gräulichkeiten und Bezeugungen ohnmächtiger geistlicher Rache und ekklesialer Wunscherfüllung seien hier ausgespart. Sie finden sich im ganzen 19. Jahrhundert. Noch 1877 veröffentlichte ein Autor namens Armel de Kervan eine Synthese aller angeblichen ekelerregenden Vorkommnisse an Voltaires Sterbebett. (112) Voltaire spaltete die französische Gesellschaft in nahezu unversöhnliche Lager wechselseitigen Hasses. (113). Er wurde zum "berühmtesten, verehrtesten und gehaßtesten Mann Europas". (114) Geistliche Autoren bekräftigen auch nach der 1905 erfolgten Trennung von Staat und Kirche in Frankreich, daß Voltaire als Verzweifelter gestorben sei. (115) Als Grund wird stets seine Ferne von der Kirche als alleiniger Inhaberin der Wahrheit insinuiert. Niemand ist der gesamten Institution offenbar gefährlicher und bestandsbedrohlicher geworden als der Mann aus Ferney, welchem Theologen noch in den fünfziger Jahren dieses Jahrhunderts "satanische Tendenzen" (116) attestieren.

5. Voltaire post mortem

Voltaire hatte in einem Brief vom 20. Dezember 1768 an Villevielle geschrieben: "Ich trotze dem Teufel, der nicht existiert, und den wahren, den fanatischen Teufeln, die nur zu sehr existieren". (117) In der Tat "zeigen die Priester alle eine unschickliche Freude; sie sagen wie Kaiser Vitellius: ‘Der Leichnam eines Feindes riecht immer gut’" (118), wie der russische Geschäftsträger in einem angeforderten Bericht zum Tod ihres Brieffreundes Voltaire seiner Kaiserin vermeldet. Unmittelbar nach dem Tod des Philosophen hatte D’Alembert für Voltaire einen Gottesdienst, der traditionell für jedes verstorbene Akademiemitglied von Franziskanern zelebriert wurde, angemahnt. Pfarrer Tersac sprach sich in einem langen Memorandum dagegen aus: "Voltaire war der erklärte Feind der christlichen Religion; seine Blasphemien gegen die verehrungswürdige Person Jesu Christi stehen in den meisten seiner Schriften ...; da er die Werke, die seinen Namen tragen, weder widerrufen noch verleugnet hat, ist er offenkundig ein öffentlicher Sünder von wildester Gottlosigkeit und letzter Infamie. Mehr als dreißig Zeugen werden aussagen, daß er bei seinem Tod nicht das geringste Zeichen von Reue gezeigt hat. Er hat weder die Heilige Wegzehrung noch die Letzte Ölung empfangen. Seine Beichte zwei Monate zuvor ist illusorisch und ein Spiel seiner Gottlosigkeit mit einem armen Priester, den er getäuscht hat ... Da er keine Religion anerkennt, hat er lediglich Folgeleistung der Sitte des Gebiets, wo er sich befindet, vorgetäuscht. Er hätte das gleiche in der Türkei unter den Mohammedanern oder in Westindien unter den Heiden getan. So ist seine Erklärung nur ein weiterer Skandal". (119)

Die Messe unterblieb. Auf Betreiben D’Alemberts fand sich Friedrich II. gerne bereit, für einen Gottesdienst zugunsten Voltaires zu sorgen. Er fand am 30. Mai 1780 im Berliner Dom, eine zweite Meßfeier im Winter desselben Jahres in Breslau (120) statt. Friedrich schreibt über die Berliner Feier am 22. Juni 1780 an D’Alembert: "Was Voltaire betrifft, so garantiere ich Ihnen, daß er nicht mehr im Fegefeuer sitzt. Nach dem öffentlichen Gottesdienst für seine Seelenruhe ... muß der französische Vergil jetzt im Glanz der Glorie sein. Theologischer Haß kann ihn nicht daran hindern, sich in Begleitung von Sokrates, Homer, Vergil und Horaz in den Elysäischen Gefilden zu ergehen... In die Ferne blickend wird er die Päpste, die Kardinäle, die Verfolger und Fanatiker im Tartarus die Qualen von Ixion, von Tantalus, von Prometheus und die aller antiker Verbrecher erdulden sehen. Wenn die Schlüssel zum Fegefeuer ausschließlich in den Händen eurer französischen Bischöfe gelegen hätten, wäre für Voltaire alle Hoffnung verloren gewesen. Aber durch das Mittel des Passepartout, das uns die Messen für die Ruhe der Seelen in die Hand gegeben haben, hat sich das Schloß geöffnet und er ist trotz Beaumont, Pompignan und dem ganzen Gefolge freigekommen". Der König fügt nach einem Lob seiner Werke hinzu: "Ich richte jeden Morgen mein Gebet an ihn und sage: ‘Göttlicher Voltaire, ora pro nobis!’". (121)

Was geschah mit Voltaires Leiche? Sie wurde zunächst ausgeweidet und die Innereien wurden in die Latrinen entsorgt. Das Herz ging an den Marquis de Villette und befindet sich heute in der französischen Nationalbibliothek in einem Metallschrein, der "in den Sockel der Voltaire-Statue von Houdon, welche auf dem Treppenabsatz des 1. Stockes" (122) steht, eingelassen ist. Es dürfte den Umzug in die neuen Gebäude mitgemacht haben. Das Gehirn kam nach längerer Odyssee in das Museum der Comédie-Française und ist seit 1924 verschollen. (123) Die Leibeshülle wurde einbalsamiert und wider Wissen und Willen der zuständigen geistlichen Behörden von Voltaires Neffen, Abbé Mignot, mit Hilfe einer List in die Abtei Scellières in der Champagne transportiert und dort unter dem geistlichen Beistand des ahnungslosen Priors kirchlich beerdigt. "Voltaire hatte damit den Priestern den letzten Streich gespielt" (124), wenn das Verdienst dafür auch seinem Neffen gutzuschreiben ist. Ein unbekannter Dichter ersann das sinnreiche lateinische Epitaphium: "Hic inter monachos quiescit, qui nunquam contra monachos quievit". (125)

Damit war Voltaires postmortale Odyssee nicht beendet. Die Geistlichkeit fühlte sich in ihren ausdrücklichen Willensbekundungen betrogen und drohte mit Exhumierung. Dem hielt d’Hornoy, Voltaires anderer Neffe, die Drohung einer Zivilklage entgegen, die für weitreichenden Skandal gesorgt hätte. (126) Die Exhumierung unterblieb darauf. Zur Ehre der Geistlichkeit sollen einige Stimmen erwähnt werden, die die Intransigenz des Pfarrers von Saint-Sulpice bei der Bestattung Voltaires mißbilligten. Der Pfarrer von St.-Roch sagte mit Bezug auf Voltaire, daß es nicht galt, ihn zu konvertieren, sondern ihm eine Konversion abzuringen, die der Kirche Ehre gemacht hätte. (127) Der Pfarrer von St.-Eustache versicherte, daß er Voltaire begraben hätte, der von St.-Etienne-du-Mont, er hätte ihn zwischen Racine und Pascal zur ewigen Ruhe gebettet. Noch ein anderer erklärte, er hätte Voltaire bestattet und den Widerruf vom 2. März auf seinen Grabstein setzen lassen. (128) Abbé Gaultier schließlich sagte vor einem Notar aus, Voltaire sei immer Christ gewesen und habe sich zu allen Glaubenswahrheiten der Kirche bekannt. (129) Gaultier freilich hatte unter dem Zorn seiner Vorgesetzten bezüglich seines gutgläubigen Vorgehens sehr zu leiden, hielt jedoch, zum Schweigen gezwungen, an seiner Sicht fest, die er freilich nur notariell bekennen konnte. Der Abbé wurde später das bedauernswerte Opfer einer anderen Art von Fanatismus, die zweifelsohne Voltaires Protest hervorgerufen hätte, der Revolutionsmassaker an Priestern vom 2. September 1792. Mit 190 anderen Ermordeten wurde er 1926 von Pius XI. selig gesprochen. (130)

Madame Denis verkaufte Ferney an den Marquis de Villette und Voltaires Bücher an die Kaiserin von Rußland. Ferney wurde nie mehr zu dem, was es in Voltaires Obhut gewesen war. Villette merkte bald, daß die Kolonie nur als philanthropisches Unternehmen des Patriarchen, d.h. durch sein Vermögen gedieh und von sich aus nicht viel abwarf. So verkaufte er Ferney wieder. Ein heutiger Besuch in seinem Schloß in großartiger Landschaft ist von herzerwärmender Annehmlichkeit, wenn man das Bedenken nicht aus dem Sinn verliert, wer hier gelebt hat und gewandelt ist. Seine Kirche mit der Aufschrift: "Deo erexit Voltaire" ist ebenso noch vorhanden wie seine Begräbnispyramide, die er für sich unglücklicherweise nicht nutzen konnte, und sein Drei-Flammen-Wappen über dem Schloßportal.

Der Marquis de Villette, nun einfach Bürger Villette, brachte am 9. November 1790 im Jakobinerclub die Idee ins Gespräch, Voltaires sterbliche Überreste von Scellières nach Paris überführen zu lassen. Er schlug vor, die Kirche Ste.-Geneviève als Pantheon für die großen Männer des Landes einzurichten und Voltaire dort feierlich zu bestatten. Der Vorschlag fand allgemeine Zustimmung. Als Mirabeau am 2. April starb, wurde dieser als erster dorthin überführt. Die Einholung von Voltaires Gebeinen am 11. Juli 1791 gestaltete sich zum zweiten, zu einem unglaublichen Triumphzug ihm zu Ehren (131), an dem die ganze Nation teilhatte, um das "posthume Königtum der Intelligenz" (132) in einer noch nie dagewesenen Feier für einen Schriftsteller zu zelebrieren. Freilich hatte dieser die Gedanken, auf denen der Bau der Revolution ruhte, vorgedacht. Gleichzeitig mit dem Sinken des Sterns des legitimen Königs stieg der Stern des Königs der öffentlichen, nun demokratisch ausgerichteten Meinung. Gossecs Orchesterhymne "Peuple, éveille-toi!" aus Voltaires "Samson" (133) untermauerte die Apotheose des Vorkämpfers vernunftorientierten politischen Handelns. Spätere Gerüchte, während der Restauration seien Voltaires Gebeine aus dem Sarkophag entwendet und auf unbebautem Gelände verscharrt worden, scheinen von den Behörden gezielt ausgestreut worden zu sein, um inopportune Pilgerfahrten zu seinem Grab zu entmutigen. Als in der Republik, am 18. Dezember 1897, die Särge Voltaires und Rousseaus geöffnet wurden, waren diese Gerüchte als haltlos widerlegt. Der Chemiker Berthelot stellte fest: "Die Überreste Voltaires und Rousseaus existieren im Pantheon in ihren Särgen". (134)

Voltaires Tod und dessen Interpretation löst sich erst heute aus den Leidenschaften erbarmungslosen Parteienkampfs. Wir alle in Europa genießen die Früchte seiner Arbeit und Leistung. Alles von ihm zu lesen ist nicht möglich, so immens ist sein Werk. Aber es ist möglich "Voltaire" (135) zu lesen und sich eine Vorstellung davon zu machen, mit welchen gefährlichen Drachen aus scheinbar ferner Urzeit er mit den gewandten Mitteln des Witzes, der Anklage und der treffsicheren Formulierung zu kämpfen hatte. Da die Monster nicht besiegt, vielleicht nie wirklich besiegbar sind, behalten seine Schriften, ebenso wie die geistige Haltung, für die er steht, ihre Aktualität.

Anmerkungen:

(1) Pomeau, R.: Si François-Marie Arouet n’avait pas vécu ... Bulletin de l’Académie royale de langue et de littérature françaises 71, 1993, S. 191. Übersetzungen durch den Verfasser.

(2) Pomeau, R.: Préface. In: Bréhant, J., Roche, R.: L’envers du roi Voltaire (Quatre-vingts ans de la vie d’un mourant). Paris 1989, S. 18.

(3) D21022. Es ist üblich geworden, Voltaires Korrespondenz mit D + Briefzahl zu zitieren. Unter dieser Zählung findet sie sich in der auf 135 Bände veranschlagten kritischen Gesamtausgabe der Voltaire Foundation Oxford: "Les Oeuvres complètes de Voltaire", 1968 ff.

(4) Emelina, J.: Voltaire et Rousseau devant la maladie et la mort. In: Colloque international de Nice sur Rousseau et Voltaire en 1776-1778. Nice 1979, S. 63.

(5) D14738.

(6) Besterman, T.: Voltaire. 3. Auflage, Oxford 1976, S. 574.

(7) D21008.

(8) Pomeau, R.: Préface, a.a.O., S. 17.

(9) Longchamp, S.G., Wagnière, J.L.: Mémoires sur Voltaire et sur ses ouvrages, suivis de divers écrits inédits, t. 1. Paris 1826, S. 120.

(10) Manceron, C.: Les hommes de la liberté 1. Les vingt ans du roi. De la mort de Louis XV à celle de Rousseau 1774/1778. Paris 1972, S. 579.

(11) D21032.

(12) D21037.

(13) D21049.

(14) D21040.

(15) D21143.

(16) D21047.

(17) D21052.

(18) Longchamp/Wagnière, a.a.O., S. 161.

(19) D21054.

(20) D21063.

(21) Manceron, a.a.O., S. 590.

(22) Besterman, a.a.O., S. 575.

(23) D21066.

(24) D21070.

(25) D21077.

(26) Longchamp/Wagnière, a.a.O., S. 124.

(27) In: Les Oeuvres complètes de Voltaire, Bd. 129 .Voltaire Foundation, Banbury 1976, S. 234.

(28) Longchamp/Wagnière, a.a.O., S. 127.

(29) Ebd., S. 128.

(30) D21081 bzw. D21084.

(31) D21085.

(32) McManners, J.: Reflections at the Death Bed of Voltaire. The Art of Dying in Eighteenth-Century France. Oxford 1975, S. 21.

(33) D12067.

(34) Longchamp/Wagnière, a.a.O., S. 131.

(35) Lachèvre, F.: Voltaire mourant. Enquête faite en 1778 sur les circonstances de sa dernière maladie, publiée sur le manuscrit inédit et annotée. Paris 1908, S. 28.

(36) D.app.499.

(37) Longchamp/Wagnière, a.a.O., S. 132/133.

(38) Lachèvre, a.a.O., S. 31.

(39) D21102.

(40) Pomeau, R.: Voltaire en son temps, t. 2. Oxford 1995, S. 584.

(41) Longchamp/Wagnière, a.a.O., S. 133; D.app.497.

(42) Desnoiresterres, G.: Voltaire et la société française au XVIIIe siècle 8. Voltaire, son retour et sa mort. Paris 1876, S. 234.

(43) Longchamp/Wagnière, a.a.O., S. 452.

(44) Desnoiresterres, a.a.O., S. 246.

(45) D18099.

(46) Manceron, a.a.O., S. 590.

(47) Duvernet, T.I.: Vie de Voltaire, suivie d’anecdotes qui composent sa vie privée. Paris 1797, S. 461.

(48) D21096.

(49) Ebd.

(50) In: Les Oeuvres complètes de Voltaire, Bd. 129, a.a.O., S. 271.

(51) Ebd., S. 266.

(52) Ebd.

(53) Vgl. zu den Einzelheiten: Pomeau: Voltaire en son temps, a.a.O., S. 595f., D21134, D21139 und Les Oeuvres complètes de Voltaire, Bd. 129, a.a.O., S. 272/273.

(54) Manceron, a.a.O., S. 586.

(55) Pomeau: Voltaire en son temps, a.a.O., S. 600.

(56) D21156.

(57) Pomeau: Voltaire en son temps, a.a.O., S. 581.

(58) D21149.

(59) Longchamp/Wagnière, a.a.O., S. 152.

(60) D21180.

(61) D21190.

(62) D21193.

(63) D21169.

(64) Bréhant, J.: Pour un bicentenaire: la mort de Voltaire. Bulletin de l’Académie nationale de Médecine 162, 1978, 428-435; Galliani, R.: Quelques faits inédits sur la mort de Voltaire. Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 217, 1983, 159-175; Dr Doan: Voltaire, sa dernière maladie. La Vie en Champagne, no. 415, 1990, 13-18.; Bréhant/Roche, a.a.O.

(65) Favre, R.: L’obsession de la mort chez les philosophes des Lumières. Spicilegio moderno, nos. 17-18, 1982, S. 7.

(66) D15805.

(67) Pomeau, R.: La religion de Voltaire. Paris 1994, S. 457.

(68) D14738.

(69) D20632.

(70) D21181.

(71) D21190.

(72) D21209.

(73) D21210.

(74) In Bd. 129.

(75) D21192.

(76) Longchamp/Wagnière, a.a.O., S. 160.

(77) D21215.

(78) D21213.

(79) In: Les Oeuvres complètes de Voltaire, Bd. 129, a.a.O., S. 345.

(80) D13374.

(81) Desnoiresterres, a.a.O., S. 379; Pomeau, R.: La mort de Voltaire et ses suites: une lettre inédite de Madame Denis. Revue d’histoire littéraire de la France 79, 1979, S.185.

(82) D21218, D21219, D21220.

(83) D21221.

(84) Lachèvre, a.a.O., S. 61/62.

(85) Longchamp/Wagnière, a.a.O., S. 160/161.

(86) Duvernet, a.a.O., S. 367/368.

(87) Longchamp/Wagnière, a.a.O., S. 161.

(88) Bariatinsky, I.: Récit inédit de la mort de Voltaire. Journal des débats politiques et littéraires, 30 janvier 1869.

(89) Duvernet, a.a.O., S. 368.

(90) Harel, E.: Voltaire. Recueil des particularités curieuses de sa vie et de sa mort. Porrentruy 1781, S. 16.

(91) Ebd., S. 18.

(92) Vgl. Bréhant/Roche, a.a.O.

(93) D21037.

(94) D21044.

(95) D21065.

(96) D21125

(97) Ebd.

(98) D21182.

(99) Desnoiresterres, a.a.O., S. 367.

(100) Ebd., S. 364-366.

(101) D21065.

(102) Manceron, a.a.O., S. 610.

(103) Ebd.; ähnlich äußern sich G. Gargett: ‘Un fichu moment’ – Doctor Tronchin, Voltaire’s Death and a Misdated Letter. French Studies Bulletin, no. 51, 1994, S. 13, und R. Pomeau: Voltaire en son temps, a.a.O., S. 618.

(104) Desnoiresterres, a.a.O., S. 367.

(105) Lachèvre, a.a.O., S. 68.

(106) Desnoiresterres, a.a.O., S. 369.

(107) Ebd., S. 370.

(108) Lachèvre, a.a.O., S. 56.

(109) Harel, a.a.O.

(110) Desnoiresterres, a.a.O., S. 375.

(111) Ebd., S. 380.

(112) Pomeau: Voltaire en son temps, a.a.O., S. 636.

(113) Delon, M.: Le panthéon et l’égout. Magazine littéraire, no. 238, 1987, 47-49.

(114) Besterman, a.a.O., S. 577.

(115) Baudrillart, A.: Les derniers moments de Voltaire. Revue pratique d’apologétique 1, 1906, S. 448; Cristiani, L.: Questions de science ecclésiastique. Consultations diverses. L’Ami du clergé 58, 1948, S. 407.

(116) Cristiani, L.: Présence de Satan dans le monde moderne. Paris 1959, S. 250.

(117) D15377.

(118) Bariatinsky, a.a.O.

(119) Pomeau, R.: La confession et la mort de Voltaire d’après des documents inédits. Revue d’histoire littéraire de la France 55, 1955, S. 313/314.

(120) Lebois, A.: Littérature sous Louis XV. Portraits et documents. Paris 1962, S. 303.

(121) zit. in: Cristiani, L.: Autres notes sur la mort de Voltaire. L’Ami du clergé 58, 1948, S. 664.

(122) Bréhant/Roche, a.a.O., S. 208.

(123) Ebd., S. 210.

(124) Pomeau: La confession, a.a.O., S. 311.

(125) Harel, a.a.O., S. 134.

(126) Text bei R. Pomeau: La confession, a.a.O., S. 312.

(127) Duvernet, a.a.O., S. 368/369.

(128) Pomeau: La confession, a.a.O., S. 307.

(129) Donvez, J.: Voltaire mourut-il bon catholique? Le Figaro littéraire 9, no. 433, 1954, S. 1 und 6-7; D.app.498.

(130) Cristiani: Autres notes, a.a.O., S. 657.

(131) Beschreibung z.B. bei Schilling, B.N.: The Apotheosis of Voltaire. In: R. Wellek, A. Ribeiro (eds.): Evidence in Literary Scholarship. Essays in Memory of James Marshall Osborn. Oxford 1979, S. 363-377.

(132) Desnoiresterres, a.a.O., S. 498.

(133) Coy, A.: Die Musik der Französischen Revolution. Zur Funktionsbestimmung von Lied und Hymne. München 1978, S. 51.

(134) Berthelot, M.: La sépulture de Voltaire et de Rousseau. Journal des savants 1898, S. 113.

(135) "du Voltaire" sagt R. Pomeau: Faut-il encore lire Voltaire? Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 320, 1994, S. 7.

Der Autor ist Gymnasiallehrer und hat eine Reihe von Aufsätzen zu Voltaires Gedankenwelt veröffentlicht.