Dr. Jens-F. Dwars (Jena)

Das Leben des Friedrich Nietzsche. Ein Totentanz

aus: Aufklärung und Kritik 2/2001, S. 88 ff.

 

Im ausgehenden Mittelalter begannen sich Friedhofsmauern, und wenig später auch Kirchwände mit Totentänzen zu füllen. Sie hielten fest, was zuvor nur als Schauspiel in lebendigen Bildern erschien: Reigentänze von Lebenden und Toten, Nachklänge archaischer Riten, Versöhnungsversuche heidnischen Ursprungs zur Abwehr von Dämonen, zur Milderung des Schreckens durch spielerische Angleichung.(1)

Erst im Machtbezirk der Kirche erstarren die Bilder selbst zur schrecklichen Mahnung: Memento Mori – gedenke des Todes, der Endlichkeit alles irdischen Glücks, der Nichtigkeit des Lebens. Und zum hämischen Trost der kleinen Leute, daß der große Gleichmacher am Ende auch den Reichen und Mächtigen abberuft.

Vielleicht hat Nietzsche deshalb die Spuren des Baseler Totentanzes nie erwähnt. Eine Maßregel geistiger Hygiene: sich nicht einzulassen auf das, was die Sinne kränkt. Auch Goethe empfand so und mied alle Darstellung des Todes und des Sterbens. Fratzenhaft nannte er sie, dem Bereich des Häßlich-Gemeinen zugehörig, über das sich der Mensch nach antikem Vorbild erheben solle, um das Edle im Leben zu bereichern.

"Es gibt unter den Menschen keine größere Banalität als den Tod", schreibt Nietzsche (WS 58; KSA 2, 578). Wenn man sie sterben sehe, steige regelmäßig der Gedanke auf, "daß der Sterbende im Leben wahrscheinlich wichtigere Dinge verloren habe, als er hier zu verlieren im Begriffe steht". (M, 349; KSA 3, 238 f.) Der Tod an sich ist schal und leer, ein unabänderliches Faktum, über das nachzudenken schon Spinoza müßig erschien: er kommt von allein und befreit uns von jeglicher Angst.

Statt am Leben durch den Tod zu verzweifeln, könnte er es vielmehr würzen, könnte "durch die sichere Aussicht auf den Tod ... jedem Leben ein köstlicher, wohlriechender Tropfen von Leichtigkeit beigemischt sein" – wenn nicht wunderliche Apotheker-Seelen daraus einen übelschmeckenden Gift-Tropfen gemacht hätten, "durch den das ganze Leben widerlich wird". (WS 322; KSA 2, 695)

Es sind die Prediger des Todes, die Zarathustra anklagt, das Leben zu vergiften. Weil sie lehren, es sei nur Leiden und das Dasein selber eine einzige Sünde. "Und auch ihr", ruft er uns Modernen zu, "denen das Leben wilde Arbeit und Unruhe ist: seid ihr nicht sehr müde des Lebens? Seid ihr nicht sehr reif für die Predigt des Todes?" Uns, "denen die wilde Arbeit lieb ist und das Schnelle, Neue, Fremde", auch uns zählt er unter die Verzweifelnden: "ihr ertragt euch schlecht, euer Fleiss ist Fluch und Wille, sich selber zu vergessen. / Wenn ihr mehr an das Leben glaubtet, würdet ihr weniger euch dem Augenblicke hinwerfen. Aber ihr habt zum Warten nicht Inhalt genug in euch – und selbst zur Faulheit nicht!" (ZA I; KSA 4, 56 f.)

Dem gemeinen nichtssagenden Tod, der alle irgendwann ereilt, stellt Zarathustra einen anderen, den freien Tod gegenüber: den Tod des Vollbringenden, der zur rechten Zeit stirbt – "siegreich, umringt von Hoffenden und Gelobenden. / Also sollte man sterben lernen; und es sollte kein Fest geben, wo ein solcher Sterbender nicht der Lebenden Schwüre weihte!" Wer ein Ziel und einen Erben habe, der wolle den Tod zur rechten Zeit. Viel zu viele lebten viel zu lange. Nur der Hebräer, den die Prediger des langsamen Todes ehrten, sei zu früh gestorben: "Wäre er doch in der Wüste geblieben ... Vielleicht hätte er leben gelernt und die Erde lieben gelernt – und das Lachen dazu!" (ZA I; KSA 4, 93 ff.)

Lassen wir diese Worte auf der Zunge zergehen, so überkommt uns die Versuchung, Nietzsches geistige Umnachtung als seinen Freitod zu deuten. Starb er nicht auf diese Art genau zur rechten Zeit, um seiner Erben und seines Zieles willen? Der unstete Wanderer, der den letzten Teil seines "Zarathustras" in vierzig Exemplaren drucken ließ, weil sich in ganz Europa nicht mehr Leser fanden. Kaum versank er in der Dämmerung, stieg sein Name als leuchtender Stern am Firmament derer auf, die bis dahin nichts von ihm wissen wollten.

Hat er sich gar bewußt in das Schweigen zurückgezogen, weil er sah, daß er untergehen muß, damit sein Werk auferstehe? Hat er dafür selbst die Fälschungen der Schwester in Kauf genommen, sich nur abwesend gestellt, wie Joachim Köhler es uns erzählt, um sich zuletzt mit einer Überdosis Morphium aus dem Gefangensein seiner weiblichen Seele in einem männlichen Leib hinauszuträumen?(2)

Ich fürchte, die Vorstellung ist zu schön, um wahr zu sein. Denn alle medizinischen Belege lassen keinen Zweifel an dem Faktum, daß eine gemeine Krankheit, die gemeinste im Doppelsinn des Wortes, ihn niederraffte: Lues oder schlicht Syphilis genannt.(3) In den meisten Biographien wird sie noch immer schamhaft umschrieben, weil solch ordinäre Geschlechtskrankheit zu dem keuschen Denker nicht passen will. Auch das eine Entnietzschung Nietzsches?(4)

Sie könnte in ihrer Banalität durchaus ein Schlüssel zum Verständnis dieses merkwürdigen Menschen sein: egal ob wir der Schilderung von Thomas Mann bzw. Paul Deussen folgen, wonach der Bonner Student nur aus Versehen von einem Kölner Fremdenführer ins Bordell verführt wurde – oder ob wir eher annehmen, daß er sich den anderen "Frankonen" anschloß bei ihren gewöhnlichen Streifzügen in die Unterwelt der benachbarten Großstadt – so oder so wird er das Opfer seines Mitmachenwollens, des Seinenmannstehenwollens, Seinemännlichkeitbeweisenwollens, zu dem auch das Kriegersein gehört, das dem Tolpatsch vom Naumburger Reitplatz ebenso gründlich mißlingt wie dem Sanitäter im Deutsch-Französischen Krieg, und das der Schriftsteller Nietzsche desto demonstrativer zu seiner Norm erklärt, sich auf dem Papier als Soldat gebärdend, der die Welt in zwei Hälften schießt.

Es ist dieser menschlich-allzumenschliche oder kleinbürgerliche Wille zum Dazugehören, der ihn immer wieder in mißliche Lagen führt, in denen er umso schmerzhafter sein Anderssein spürt. Schon das Kleinkind zieht sich zurück, macht sich eigene Gedanken, während die anderen im Pfarrhaus für das Wohl des Vaters beten. In der Knabenbürgerschule müht er sich vergebens, die anderen mit Bibelsprüchen zu beeindrucken, die ihn hänseln und verlachen. Einen folgsam braven Jungen, der die Frechheit besitzt, seine erste Autobiographie an Goethe zu messen: "Aus meinem Leben". Es sei alles Wahrheit, keine Dichtung, versichert er uns am Ende, und hat schon gelernt, mit unschuldiger Miene zu lügen, in der Maske frommen Gottvertrauens jene abgründigen Zweifel auszusprechen, die seine Umwelt als Ketzerei verdammt.

Er will dazugehören, er tanzt mit den Baseler Pfahlbürgern, stolz mit 24 Jahren zum Professor aufgestiegen zu sein, und verfaßt aus Überdruß an dem schalen Wissenschaftsbetrieb, an den Scheinproblemen der akademischen Flohknackerei, eine Schrift, die ihn als Philologen erledigt. Er hofft, durch Lou von Salomé in die Mitmenschlichkeit zurückzukehren und weiß sie nicht zu halten. Er will dazugehören, will die Rollen der Anderen erfüllen, doch fehlt ihm deren Sicherheit, ihr Schutzinstinkt. Die Folge sind tödliche Infektionen, Verletzungen an Leib und Seele, die tiefe Wunden hinterlassen. Schmerzen, die er mit Wortkaskaden betäubt und die ihn weitertreiben auf seinem Weg in wachsende Einsamkeit.

Auf einem Weg, dessen treuester Begleiter von Anfang bis Ende der Tod ist. Der Tod, der ihm den Vater raubt, den Bruder, Tante, Großmutter, alles was dem Kind einen Halt gab, stiehlt dieser gnadenlose Vernichter mit höhnischem Grinsen. Der Tod als endloser Leider, der Erlösung am Kreuze lügt. Der Tod als Zuchtmeister im Bildungskloster, als Geist einer unangreifbaren Ordnung, die jeden Widerwillen bricht, und als der Versucher, sich den Elementen hinzugeben, in die Tiefe zu versinken, in einen Saalestrudel bei Jena 1859. Der Tod als die verbotene Lust des anderen Geschlechts, für einen Augenblick täuschenden Taumels gekauft und mit peinlichen Schmerzen bezahlt. Der Tod als Lehrer der Entsagung und Verführer in den Rausch der Musik. Der Tod als Pflicht am Katheder, die ihm das Hirn aus dem Schädel zerrt, als befreiende Krankheit, als Partner im Selbstgespräch, 6000 Fuß über dem Meer, als Ikarus, der ihn fliegen lehrt, sich selbst übersteigen, hinauf zur schwarzen Sonne seiner Melancholie. Der Tod als blendender Spiegel eigener Göttlichkeit, als Heimkehr zu Mutterliebe und Schwesterlist, als Torwächter zur Ewigkeit und barmherziger Freund, der sein müdes Auge schließt.

So ließe sich das Leben des Friedrich Nietzsche als ein Totentanz vorstellen: Ein tragikomisches Spiel von des Menschen Größe, ein Balanceakt auf dem Seil des Ruhms über dem Abgrund seiner Banalität.

Anmerkungen:

(1) Vgl. Tanz der Toten – Todestanz. Der monumentale Totentanz im deutschsprachigen Raum, Dettelbach 1998.

(2) Joachim Köhler, Nietzsches letzter Traum. Roman, München 2000.

(3) Vgl. Pia Daniela Volz, Nietzsche im Labyrinth seiner Krankheit. Eine medizinisch-biographische Untersuchung, Würzburg 1990.

(4) Im Sinne von: Hermann Josef Schmidt, Wider weitere Entnietzschung Nietzsches. Eine Streitschrift, Aschaffenburg 2000. Meine Einwände gegen die "Streitschrift" erscheinen voraussichtlich in Heft 4/2001 der Zeitschrift Palmbaum. Literarisches Journal aus Thüringen.

Vortrag auf dem Naumburger Nietzsche-Kongreß zum 100. Todestag des Philosophen im August 2000.

Zum Autor: Jens-F. Dwars, Jahrgang 1960, Promotion über Ludwig Feuerbach, 1986-92 Germanistikassistent in Jena, seit 2000 Freier Autor, Arbeiten über Goethe, NIetzsche und Peter Weiss; Grimme-Sonderpreis 2001 für den Becher-Film "Über den Abgrund geneigt".