Dr. Wolf Pohl (Konstanz)
Von Relativismus, Postmodernismus
und dem Kampf gegen Windmühlen

Veröffentlicht in Aufklärung & Kritik 2/2002, S. 190-199

Zweck dieses Artikels ist es zum einen, Alan Sokal, einen amerikanischen Physiker an der Universität New York, mit einem parodistischen Artikel in einer amerikanischen Zeitschrift für Kulturwissenschaft(1) Urheber der sogenannten "Sokal-Affaire" und, zusammen mit Jean Bricmont, Autor des Buches "Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen"(2), gegen die ungerechtfertigten und unangemessenen Angriffe zu verteidigen, die Peter Zigman in seinem Artikel "Die Wissenschaften im Banne der Science Wars oder: Die Legende von stetem Fortschritt und wahren Kreuzrittern"(3) unternimmt. Zum anderen wird der von Zigman vertretene erkenntnistheoretische Relativismus kritisiert.

Durch – sehr lesenswerte – Zitate aus dem Buch von Sokal und Bricmont kann man beides weitgehend diesen Autoren selbst überlassen. Dabei könnte das Nützlichste an dem vorliegenden Artikel sein, dass Leser, die das Buch von Sokal und Bricmont noch nicht gelesen haben, schon einmal einen ersten Eindruck von diesem wichtigen Buch erhalten und vielleicht angeregt werden, es zu lesen. Für die Leser, die das Buch schon kennen, kann der Artikel vielleicht die Erinnerung an die Lektüre auffrischen.

Zigman erwähnt das Buch von Sokal und Bricmont zwar in einer Anmerkung, es finden sich aber in seinem Artikel erstaunlicherweise keine Zitate aus diesem Buch, sondern nur aus mehreren Zeitschriftenartikeln von Sokal. Hat Herr Zigman das Buch von Sokal und Bricmont vielleicht gar nicht gelesen?

Die bei den Zitaten angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf das Buch von Sokal und Bricmont. Auf den Seiten 319-330 des Buches ist der früher von Sokal in einer Zeitschrift veröffentlichte Artikel "Die Grenzen überschreiten: Ein Nachwort"(4) abgedruckt. Zitate von diesen Seiten des Buches sind also zugleich Zitate aus dem genannten Artikel.

Die Sokal-Affaire

Zigman schreibt:
"Im Mai 1996 veröffentlichte (als selbstberufener Retter der Objektivität und Erlöser der ‘wahren’ Natur-Wissenschaften aus der ‘postmodernen’ Gefangenschaft der vagen und äußerst relativistischen Geisteswissenschaften) Alan Sokal, ein amerikanischer Physiker und Universitätsprofessor, in einem Sonderheft der Zeitschrift Social Text zum Thema Science Wars eine (gelungene) Veralberung, zugespitzt und verborgen ironisierend gegenüber den ‘verdorbenen’ Geisteswissenschaften:"

Sokal und Bricmont schreiben:
"Seit einigen Jahren überraschen und beunruhigen uns die intellektuellen Trends in bestimmten Teilen der amerikanischen akademischen Welt. Große Teile der Geistes- und Sozialwissenschaften scheinen sich eine Philosophie zu eigen gemacht zu haben, die wir, in Ermangelung eines besseren Ausdrucks, ‘postmodern’ nennen wollen: Es handelt sich dabei um eine intellektuelle Strömung, die gekennzeichnet ist durch eine mehr oder minder explizite Ablehnung der rationalistischen Tradition der Aufklärung, durch theoretische Abhandlungen, die von jeglichem empirischen Nachweis losgelöst sind, und durch einen kognitiven und kulturellen Relativismus, der die Wissenschaft lediglich als ‘Erzählung’, als ‘Mythos’ oder als eine gesellschaftliche Konstruktion unter vielen betrachtet." [S. 17]

"Einer der Autoren [Sokal] veröffentlichte in Social Text, einer amerikanischen Zeitschrift für Kulturwissenschaft, einen parodistischen Artikel, der mit unsinnigen, aber bedauerlicherweise echten Zitaten prominenter französischer und amerikanischer Intellektueller gespickt war. ... Wir wollten allgemeinverständlich erklären, warum die Zitate absurd oder, in vielen Fällen, einfach sinnlos sind, und wir wollten auch das kulturelle Umfeld beleuchten, das es möglich machte, daß diese Abhandlungen ein solches Ansehen erlangten und, bislang jedenfalls, unwidersprochen blieben. Doch was genau behaupten wir? Nicht zuwenig und nicht zuviel. Wir zeigen auf, daß berühmte Intellektuelle wie Lacan, Kristeva, Irigaray, Baudrillard und Deleuze wiederholt mit wissenschaftlichen Ideen und Begriffen Mißbrauch getrieben haben, indem sie wissenschaftliche Konzepte ohne jede Rechtfertigung völlig aus dem Zusammenhang rissen ... oder indem sie gegenüber ihrer fachlich nicht vorgebildeten Leserschaft mit Wissenschaftsjargon um sich warfen, ohne sich um dessen Relevanz oder gar Bedeutung zu kümmern." [S. 9]

"Trotzdem wurde der Aufsatz angenommen und veröffentlicht. Schlimmer noch, er wurde in einer Sondernummer von Social Text abgedruckt, die jene Kritik widerlegen sollte, die einige bekannte Wissenschaftler vorgebracht hatten. Die Herausgeber von Social Text hätten sich kaum schlimmer schaden können. Sokal machte sofort publik, daß es sich um einen Scherz gehandelt hatte, und löste damit sowohl in der populären als auch in der akademischen Presse heftige Reaktionen aus." [S. 18]

Postmodernismus

Zigman schreibt:
"Von der Seite der ‘Kreuzritter’ und ihrer Nachahmer wurden ‘verdorbene’ Postmodernisten, Konstruktivisten und Dekonstruktivisten, allerlei ‘Relativisten’ und ‘Irrationalisten’, etc. als ‘natürliche Feinde’ der Aufklärung und Wissenschaft identifiziert. All diese sollen schuld an der Flut der Erschütterungen der Objektivität, des kritischen Denkens und der Rationalität sein, welche die ‘wahre Wissenschaft’ zu vernichten drohe."

Sehen wir uns an, was Sokal und Bricmont zum Postmodernismus schreiben:
"Ziel dieses Buches ist, einen begrenzten, aber eigenständigen Beitrag zur Kritik des zugegebenermaßen nebulösen Zeitgeists zu leisten, den wir als ‘Postmoderne’ bezeichnen." [S. 20]

"Unser Interesse beschränkt sich hier auf bestimmte intellektuelle Aspekte der Postmoderne, die in den Geistes- und Sozialwissenschaften einen Niederschlag fanden: die Faszination wirrer Ideen, ein epistemischer Relativismus, der mit einem allgemeinen Skeptizismus gegenüber der modernen Naturwissenschaft verknüpft ist, ein extremes Interesse an subjektiven Überzeugungen unabhängig von deren Wahrheitsgehalt sowie eine Betonung von Diskurs und der Sprache unter Hintansetzung der Tatsachen, auf die sich diese Diskurse beziehen (oder, schlimmer noch, bereits die Ablehnung des Gedankens, daß Tatsachen existieren oder daß man sich auf sie beziehen kann)." [S. 229]

"Die Postmoderne [ist] ein derart kompliziertes Netz von Ideen – die logisch kaum miteinander verbunden sind –, so daß es schwierig ist, sie präziser zu charakterisieren denn als vagen Zeitgeist. Trotzdem sind die Wurzeln dieses Zeitgeists nicht schwer auszumachen und reichen bis Anfang der 60er Jahre zurück: die Herausforderung empirischer Wissenschaftstheorien durch Kuhn, die Kritik humanistischer Geschichtsphilosophien durch Foucault, die Desillusionierung über große Entwürfe politischer Veränderung." [S. 259]

"Die laxe Haltung in puncto wissenschaftlicher Klarheit, der man bei Lacan, Kristeva, Baudrillard und Deleuze begegnet, hatte in den 70er Jahren in Frankreich unbestreitbaren Erfolg und ist dort immer noch erstaunlich einflußreich. Diese Art des Denkens verbreitete sich in den 80er und 90er Jahren über Frankreich hinaus vor allem in der englischsprachigen Welt. Umgekehrt entwickelte sich der kognitive Relativismus in den 70er Jahren vor allem in der englischsprachigen Welt (etwa mit Einsetzen des strong programme) und breitete sich später nach Frankreich aus." [S. 256]

"Wenn auch ein wichtiger Teil des postmodernen ‘Diskurses’ an den amerikanischen und britischen Universitäten heute französischen Ursprungs ist, so geben ihm doch englischsprachige Intellektuelle seit langem ein eigenes Gepräge." [S. 34]

"Während die von uns kritisierten Autoren einen starken Einfluß auf die französischen Universitäten ausüben und in den Medien, den Verlagen und unter der Intelligenzia zahlreiche Anhänger haben – daher auch einige der wütenden Reaktionen auf unser Buch -, sind ihre anglo-amerikanischen Pendants immer noch eine streitbare Minderheit innerhalb bestimmter intellektueller Kreise, wenngleich sie sich in einigen Stellungen sicher verschanzt haben." [S. 13]

Relativismus

Zigman vertritt einen erkenntnistheoretischen Relativismus. Er schreibt:
"Es gibt da keine ‘Wahrheiten an sich’, sondern nur was wir als Wahrheit(en) anerkennen, da wir – aus welchen Gründen auch immer – an diese glauben."

Zum Relativismus schreiben Sokal und Bricmont:
"Grob gesprochen, werden wir den Ausdruck ‘Relativismus’ zur Bezeichnung jeder Theorie verwenden, die behauptet, die Wahrheit oder Falschheit einer Aussage hänge von einer Person oder einer gesellschaftlichen Gruppe ab." [S. 69]

"Für uns unterscheidet sich die wissenschaftliche Methode nicht grundlegend von der rationalen Haltung im Alltag oder in anderen Bereichen menschlichen Wissens. Historiker, Detektive und Installateure – ja, alle Menschen – bedienen sich derselben Methoden der Induktion, der Deduktion und der Bewertung von Beweisen wie Physiker oder Biochemiker. Die moderne Wissenschaft versucht, diese Operationen vorsichtiger und systematischer auszuführen, sie verwendet Kontrollen und statistische Tests, besteht auf Wiederholung und so weiter. Darüber hinaus sind wissenschaftliche Messungen viel genauer als alltägliche Beobachtungen; sie erlauben uns die Entdeckung bislang unbekannter Phänomene, ... " [S. 74]

"Der Hauptgrund dafür, daß wir wissenschaftlichen Theorien (zumindest den am besten verifizierten) glauben, besteht darin, daß sie die Kohärenz unserer Erfahrung erklären. Um ganz genau zu sein: "Erfahrung" bezieht sich hier auf all unsere Beobachtungen, einschließlich der Ergebnisse von Laborexperimenten, deren Ziel darin besteht, quantitativ (manchmal mit unglaublicher Präzision) die Vorhersagen wissenschaftlicher Theorien zu überprüfen. ... Diese Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment, in Verbindung mit Tausenden von ähnlichen, aber weniger spektakulären Übereinstimmungen, wäre ein Wunder, wenn die Wissenschaft über die Welt nicht die Wahrheit – oder zumindest annähernd die Wahrheit – spräche. Die experimentellen Bestätigungen der am besten gesicherten wissenschaftlichen Theorien sind, in ihrer Gesamtheit, der Beweis dafür, daß wir wirklich ein objektives (wenngleich nur annähernd wahres und unvollständiges) Wissen über die natürliche Welt erworben haben." [S. 75]

"Ein Angebot zur Güte: Wer glaubt, die Gesetze der Physik seien bloß soziale Konstrukte, der möge doch diese Konventionen einmal direkt von den Fenstern meines Apartments aus überschreiten. (Ich wohne im 21. Stock.)"(5)

Für eine ausführliche Widerlegung des erkenntnistheoretischen Relativismus verweise ich auch auf meinen Artikel "Wissenschaftlicher Realismus, das Ende der Metaphysik und die Aufklärung" in "Aufklärung und Kritik", 2/1999.

Relativismus der Zigmanschen Art

Welche erkenntnistheoretischen Argumente liefert Zigman für den von ihm vertretenen Relativismus? Er schreibt:
"Wissen ist Produkt des menschlichen Tuns, und daher sozial bedingt und bestimmt, ja dadurch auch wesenhaft geprägt."

Heutige Erkenntnistheorie kommt nicht ohne eine neurobiologische und evolutionsbiologische Basis aus. Ein wie viel allgemeineres Phänomen Wissen ist als ein sozial bedingtes und bestimmtes "Produkt des menschlichen Tuns", das zeigt die Antwort des Neurobiologen Wolf Singer auf die Frage, wie Wissen in das Gehirn kommt:
"So gibt es also drei Mechanismen, über welche Wissen in das Gehirn kommt: die Evolution, die Wissen über die Welt in den Genen speichert und dieses Wissen im Phänotyp des je neu ausgereiften Gehirns exprimiert, dann das während der frühen Ontogenese erworbene Erfahrungswissen, das sich ebenfalls in Strukturänderungen manifestiert – die übrigens kaum von den genetisch bedingten zu unterscheiden sind –, und schließlich das übliche, durch Lernen erworbene Wissen, das sich in funktionellen Änderungen der Effizienz bereits konsolidierter Verbindungen ausdrückt."(6)

Die Evolution hat uns – wie andere biologische Organismen – mit angeborenem und epigenetisch elernbarem Wissen ausgestattet, und auf dieser Basis liefern Sinneswahrnehmungen auf unmittelbare Weise Wissen. Schon dieses biologisch bedingte Wissen stellt Information über eine unabhängig vom kognitiven System existierende Realität dar. Z.B. gibt es in der Realität zwar keine Farben, aber die subjektiven und intersubjektiv kommunizierbaren Farbwahrnehmungen informieren darüber, dass die Oberflächen realer Gegenstände charakteristische Unterschiede aufweisen, nämlich Unterschiede bezüglich der Reflexion und Absorption von Licht, d.h. – wie wir heute objektiv wissen – von real existierenden elektromagnetischen Wellen.

Ich nehme an, dass auch Herr Zigman nicht bestreitet, dass es mir mit Hilfe des "menschlichen Tuns" des aus-dem-Fenster-Sehens möglich ist, mir ein objektives Wissen darüber zu verschaffen, ob es an meinem Aufenthaltsort gegenwärtig regnet. Ziehen wir nun noch weiteres "menschliches Tun" in Betracht! Ich übermittele meinem Freund in Nürnberg telefonisch die Nachricht: "In Konstanz regnet es." Da die Syntax und Semantik dieser Nachricht eindeutig ist, sollte Einigkeit darüber bestehen, dass nun mein Freund – da er mich für meiner Sinne mächtig und nicht für einen Lügner halten kann – ein objektives Wissen darüber hat, dass es in Konstanz regnet.

Das war ein Beispiel für die Gewinnung und Verbreitung von Alltagswissen. Sehr viel komplizierter, aber im Prinzip nicht anders, erfolgt die Gewinnung und Verbreitung von wissenschaftlichem Wissen. Und so gibt es keinen vernünftigen Grund, daran zu zweifeln, dass die Entdeckung der Struktur der Erbsubstanz DNA und die Veröffentlichung dieser Entdeckung dazu geführt haben, dass Molekularbiologen ein objektives Wissen über die Struktur der DNA haben.

Weiter schreibt Zigman:
"Die Wissenschaft kann man von der Gesellschaft nicht trennen, sie ist mitten in ihr verankert. Die Gesellschaft ist die einzige Legitimationsquelle für die Rechtfertigung eines Tuns im menschlichen Leben"

Wenn ich mir ein Wissen darüber verschaffe, ob es draußen regnet, dann brauche ich dazu überhaupt keine Legitimation und schon gar nicht die Gesellschaft als Legitimationsquelle. Wenn ein Wissenschaftler Forschung betreiben will, dann braucht er dafür in einer freiheitlichen Gesellschaft nur in Ausnahmefällen – wie bei der Embryonenforschung – eine gesellschaftliche Legitimation. Was er braucht, sind finanzielle Mittel, und um die zu bekommen, muss er zeigen, dass die zu erwartenden Erkenntnisse wissenschaftlich hinreichend interessant sind. Aber wie immer Forschung finanziert wird, die Forschungsergebnisse sind entweder richtig oder falsch, d.h. sie sind in Übereinstimmung mit der Realität oder nicht. Das wird sich im allgemeinen sehr schnell zeigen, weil sie von konkurrierenden Forschern nachgeprüft werden und häufig auch für technische Anwendungen verwendet werden.

Zigman schreibt:
"Die ‘natürlichen Kategorien’ (ggf. ‘natürliche Objekte’), ‘durch’ die und an die man glaubt, dass sie als ‘Fakten’ von Natur aus selbstverständlich als solche existieren, sind Ergebnisse der geschichtlichen Erfahrungen, Produkte der kulturellen Leistungen im jeweiligen Milieu ...

Sie sind nicht ‘einfach da’. Sie wurden von Menschen mit Sinn versehen und zu ‘Fakten’ (Ereignissen) gemacht. Oder will man vielleicht glauben, dass etwa die ‘weltgeschichtliche Rolle’ eines Atoms darin besteht, vom Menschen entdeckt und zerschlagen zu werden? ... Wohl kaum."

Was z.B. den Mond – als ‘natürliches Objekt’ – betrifft, so kann wohl kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, dass er schon existierte, als noch kein homo sapiens "geschichtliche Erfahrungen" machte oder "Produkte der kulturellen Leistungen im jeweiligen Milieu" hervorbrachte. Astronomische Ereignisse fanden nicht erst dann statt, als Menschen sie astrologisch mit vermeintlichem Sinn versahen. Materie ist, seit sie im Universum entstand, aus Atomen zusammengesetzt – das ist fürwahr eine ‘weltgeschichtliche Rolle’– und das schon etwa 15 Milliarden Jahre, bevor Demokrit auch nur eine Atom-Hypothese aufstellte.

Zigman schreibt:
"Die Rolle der Sozialisierung, Erziehung, Zusammenarbeit im Rahmen der Wissenschaftsgemeinschaft und der Gesellschaft, durch welche die jeweiligen Ergebnisse geprägt werden, ist grundlegend."

Es ist überdeutlich zu erkennen, wie wichtig eine wissenschaftliche Ausbildung ist.

Ideologie

Zigman zitiert Sokal: "Ich bin links (und feministisch) mit Logik und Erfahrung, nicht gegen Logik und Erfahrung. Warum sollen wir wichtige intellektuelle Bereiche den Rechten überlassen?"

Man sollte berücksichtigen, in welchem Zusammenhang Sokal sich in dieser Weise äußerte: Seine Kritik an Relativismus und Postmodernismus wurde als eine Kritik von rechts verstanden.

Sokal und Bricmont schreiben:
"So präsentierte die New York Times die ‘Affäre Sokal’ als Streit zwischen Konservativen, die an Objektivität zumindest als Zielvorstellung glauben, und Linken, die dies ablehnen." [S. 254]

" ... wollen wir schließlich betonen, daß dieses Buch kein rechtes Pamphlet gegen linke Intellektuelle ... darstellt." [S. 33]

"Wir wollen nicht die Linke an sich kritisieren, sondern dazu beitragen, sie vor einem derzeit populären Teil ihrer selbst zu schützen." [S. 13]

Im übrigen schreiben sie:
"Es gibt einen – wenngleich häufig überschätzten – soziologischen Zusammenhang zwischen den ‘postmodernen’ intellektuellen Strömungen, die wir kritisieren, und Teilen der akademischen Linken in den USA. Ohne diese Verbindung hätten wir die Politik nicht einmal erwähnt." [S. 13]

"Die Ursprünge der Postmoderne sind nicht ausschließlich intellektueller Natur. Sowohl der philosophische Relativismus als auch die Werke der hier analysierten Autoren übten eine besondere Anziehungskraft auf einige politische Strömungen aus, die als links oder progressiv bezeichnet werden können (oder sich selbst so bezeichnen). Darüber hinaus werden die ‘Wissenschaftskriege’ oft als ein politischer Konflikt zwischen ‘Progressiven’ und ‘Konservativen’ gesehen. Natürlich gibt es auch eine alte antirationalistische Tradition in einigen rechten Bewegungen, aber das Neue und Seltsame an der Postmoderne ist, daß es sich dabei um ein antirationalistisches Denken handelt, das Teile der Linken in ihren Bann gezogen hat. Wir wollen hier untersuchen, wie diese soziologische Verbindung zustande kam, und erklären, warum sie unserer Meinung nach auf einer Reihe von Begriffsverwechslungen basiert. Wir werden uns vor allem auf die Situation in den Vereinigten Staaten konzentrieren, wo der Zusammenhang zwischen der Postmoderne und einigen Strömungen innerhalb der politischen Linken besonders deutlich ist." [S. 246]

"Die Existenz einer derartigen Verbindung zwischen der Postmoderne und der Linken wirkt auf den ersten Blick höchst paradox. In den letzten beiden Jahrhunderten ist die Linke zumeist mit einer wissenschafts- und aufklärungsfreundlichen Haltung identifiziert worden, da sie rationales Denken und die furchtlose Analyse der objektiven Realität (sowohl der Natur als auch der Gesellschaft) als entscheidende Werkzeuge im Kampf gegen die Verschleierung durch die Mächtigen angesehen hat – ganz abgesehen davon, daß dies bereits an sich erstrebenswerte Ziele der Menschheit sind. Und dennoch haben sich in den letzten zwei Jahrzehnten ‘progressive’ oder ‘linke’ Geistes- und Sozialwissenschaftler (aber unabhängig von ihrer politischen Einstellung praktisch keine Naturwissenschaftler) in großer Zahl vom Erbe der Aufklärung abgewandt und – ermutigt von französischen Importen wie der Dekonstruktion oder Eigengewächsen wie der feministischen Erkenntnistheorie – die eine oder andere Version des epistemischen Relativismus übernommen. Unser Ziel ist es, die Gründe für diese historische Kehrtwendung nachzuvollziehen." [S. 247]

"... hängen viele der zentralen politischen Themen der kommenden Jahrzehnte – von der Gesundheitsfürsorge über die globale Erwärmung bis zur Entwicklung der Dritten Welt – teilweise von schwierigen (und heftig umstrittenen) wissenschaftlichen Fragen ab. Aber nicht nur davon, sondern auch von ethischen Werten und ... von nackten ökonomischen Interessen. Keine Linke kann Erfolg haben, wenn sie nicht Fragen wissenschaftlicher Fakten und ethischer Werte und ökonomischer Interessen ernst nimmt." [S. 330]

Zigman schreibt:
"Sokal ging es eigentlich nicht um die kritisch-methodische Reflexion und auch nicht um die Legitimationslage der Wissenschaften, sondern um ihre politisch-ideologische Basis und ihre Ausnutzung. Was soll aber in der Wissenschaft ‘links’ bedeuten? Heißt das nicht letztlich Durchbruch einer Ideologie in den Bereich der Wissenschaft? Bedeutet diese ‘links’- und ‘rechts’-Etikettierung nicht zugleich ein Synonym für nicht objektiv?"

Es ist eine abwegige Annahme, die Naturwissenschaften könnten eine "politisch-ideologische Basis" haben. Seit dem Ende der kommunistischen Staaten mit marxistisch-leninistischen Vorworten in naturwissenschaftlichen Lehrbüchern kann ‘links’ in der Wissenschaft eben überhaupt nichts bedeuten. Es gibt keinen "Durchbruch einer Ideologie in den Bereich der Wissenschaft". Es gibt keine Etikettierung, die die Nicht-Objektivität des naturwissenschaftlichen Wissens zu Folge hätte.

Zigman schreibt:
"Wie will man (die Frage richtet sich nicht nur an Sokal) die Wissenschaft und ihre Wissenschaftlichkeit – in Sokals Fassung Logik und Erfahrung – mit den ausgeprägten Positionen (die aber bei Sokal in Gestalt nahezu leerer Kampfparolen zum Ausdruck kommen) links und feministisch in Übereinstimmung bringen? Fällt hier Sokal schließlich nicht in die von ihm selbst aufgestellte Falle, wenn er einerseits nach der ‘Objektivität’ schreit und andererseits eben diese in seinem Tun und seiner Begründung offen ausblendet?"

Die wissenschaftliche Qualität der Arbeit von Naturwissenschaftlern ist völlig unabhängig davon, ob ihre politischen und sozialen Überzeugungen "links" oder "rechts" oder irgendetwas sind. Wo finden sich bei Sokal "Kampfparolen"? Wieso "schreit" Sokal nach Objektivität? Wo "blendet" Sokal Objektivität "in seinem Tun und seiner Begründung offen aus"?

Zigman schreibt:
"Die Politik und Ideologie rechtfertigten hier beiderseits – bei Sokal wie der betroffenen Redaktion – das Versagen in mehrfacher Hinsicht; ... Es spukt hier überall zu viel Ideologie. Man soll aber nicht, anstatt redlich zu arbeiten und zu forschen, mit leeren Parolen kämpfen ..."

Herr Zigman hat vermutlich nicht die leiseste Ahnung davon, wie redlich Sokal als Physiker arbeitet und forscht, und es scheint ihm völlig entgangen zu sein, wie redlich er seine Auseinandersetzung mit dem Postmodernismus führt. Die Redlichkeit in der Auseinandersetzung vermisst man aber in dem Artikel von Herrn Zigman.

Wissenschaftskriege?

Die angeblichen Wissenschaftskriege tauchen schon im Titel "Die Wissenschaften im Banne der Science Wars oder: Die Legende von stetem Fortschritt und wahren Kreuzrittern" des Artikels von Zigman auf und der Artikel vermittelt den Eindruck einer wahren Wissenschaftskriegs-Hysterie!

Zu den angeblichen Wissenschaftskriegen schreiben Sokal und Bricmont:
"Auch die – von einigen französischen Rezensenten vertretene – Meinung, dieses Buch kritisiere die Geistes- oder Sozialwissenschaften insgesamt, verkennt nicht nur unsere Absichten, sondern ist auch auf eine merkwürdige Weise pauschal, die eine Geringschätzung der betreffenden Rezensenten gegenüber diesen Fachgebieten verrät. ... Entweder sind die Geistes- und Sozialwissenschaften mit den in diesem Buch angeprangerten Mißbräuchen gleichzusetzen oder nicht. Wenn ja, würden wir diese Fachgebiete tatsächlich en bloc angreifen – was dann auch gerechtfertigt wäre. Und wenn nein (und das ist unsere Ansicht), gibt es einfach keinen Grund, einen Wissenschaftler für das zu kritisieren, was ein anderer aus derselben Disziplin sagt." [S. 12]

"Wir wollen unser Buch aber nicht als einen weiteren Schuß verstanden wissen, der in den finsteren Kulturkriegen fällt, und noch weniger als einen, der aus der rechten Ecke kommt." [S. 13]

"Wir greifen die Philosophie, die Geistes- und die Sozialwissenschaften nicht in ihrer Gesamtheit an, im Gegenteil: In unseren Augen sind diese Disziplinen von größter Bedeutung, und wir wollen jene, die in diesen Fächern arbeiten (vor allem die Studenten), vor einigen eklatanten Fällen von Scharlatanerie warnen." [S. 21]

"Viele Forscher aus den Geistes- und Sozialwissenschaften schrieben Sokal, mitunter mit sehr bewegenden Worten, um ihm zu danken und ihrer eigenen Ablehnung der postmodernen und relativistischen Tendenzen Ausdruck zu verleihen, die weite Bereiche ihrer Disziplinen dominierten." [S. 18]

"Als erstes wollen wir uns mit den Spannungen befassen, die zwischen den ‘zwei Kulturen’ der Geistes- und Sozialwissenschaften einerseits und der Naturwissenschaften andererseits seit jeher existierten, in den letzten Jahren, so scheint es, aber stärker geworden sind, zugleich jedoch auch auf die Bedingungen für einen fruchtbaren Dialog zwischen ihnen zu sprechen kommen." [S. 230]

"In den letzten Jahren ist es Mode geworden, von einem sogenannten "Wissenschaftskrieg"’ zu sprechen. Doch dieser Ausdruck ist sehr unglücklich gewählt. Wer führt Krieg und gegen wen?" [S. 231]

"So macht sich unter Forschern in den Sozialwissenschaften die berechtigte Angst breit, daß ihre Disziplinen durch die Neurophysiologie und die Soziobiologie abgelöst werden. ... Die Grundprinzipien der Chemie basieren heute vollständig auf der Quantenmechanik und damit auf der Physik; trotzdem ist die Chemie als eigenständige Disziplin nicht verschwunden (wenngleich manches in der Chemie näher an die Physik herangerückt ist). Entsprechend gäbe es keinen Grund zu der Befürchtung, daß die Disziplinen, die wir heute als ‘Sozialwissenschaften’ bezeichnen, einfach verschwinden oder zu bloßen Zweigen der Biologie degradiert würden, wenn eines Tages die biologischen Grundlagen unseres Verhaltens hinreichend bekannt sein sollten, um den Menschen auf dieser Basis zu erforschen." [S. 231]

"Darüber hinaus werden die ‘Wissenschaftskriege’ oft als ein politischer Konflikt zwischen ‘Progressiven’ und ‘Konservativen’ gesehen." [S. 246]

"Eines meiner Ziele besteht hier darin, einen kleinen Beitrag zu einem Dialog zwischen linksstehenden Geistes- und Naturwissenschaftlern zu leisten – zwischen ‘zwei Kulturen’, die sich entgegen einigen optimistischen Äußerungen (vor allem von seiten der ersten Gruppe) in ihrer Mentalität vermutlich stärker unterscheiden als zu jedem anderen Zeitpunkt in den letzten 50 Jahren." [S. 319]

"Wir legen daher den ‘Wissenschaftskrieg’ ad acta und sehen uns an, was sich in bezug auf das Verhältnis zwischen den Natur und den Humanwissenschaften aus den in diesem Buch zitierten Texten folgern läßt." [S. 232]

Man kann sich keine vernünftigere, redlichere und moderatere Kritik an Relativismus und Postmodernismus vorstellen als die, die Sokal und Bricmont in ihrem Buch vortragen. Wie nötig diese Kritik ist, zeigt der Artikel von Zigman. Es entbehrt jeder Grundlage, Alan Sokal und Jean Bricmont zu Kreuzrittern in irgendwelchen "Wissenschaftskriegen" zu erklären. Dagegen erinnert Peter Zigman an den berühmten Ritter, der gegen Windmühlen kämpfte.

Anmerkungen:

(1) Alan Sokal, "Grenzüberschreitung: Auf dem Weg zu einer transformativen Hermeneutik der Quantengravitation", in Social Text, Nr. 46/47, Frühjahr/Sommer 1996, S. 217-252

(2) Alan Sokal, Jean Bricmont, "Eleganter Unsinn. Wie die Denker der Postmoderne die Wissenschaften mißbrauchen", 1999, Verlag C. H. Beck München

(3) Im Forum der vorliegenden Ausgabe von "Aufklärung und Kritik"

(4) Alan Sokal, "Die Grenzen überschreiten: Ein Nachwort", Dissent 43 (4), S. 93 – 99 (Herbst 1996), sowie, in leicht veränderter Form, in Philosophy and Literature 20 (2), S. 338-346 (Oktober 1996))

(5) Alan Sokal, "Experimente eines Physikers mit den Kulturwissenschaften"; der Artikel erschien unter dem Titel A Physicist Experiments With Cultural Studies in: Lingua Franca, May/June 1996, pp. 62-64, deutsche Übersetzung von Hans-Joachim Niemann im Internet: www. sicetnon.cogito.de/artikel/aktuelles/sokal.htm

(6) Wolf Singer: "Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung", 2002, S. 95